Dunkle Wasser

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1.

Es war einmal, vor langer Zeit, ein junges Mädchen. Es lebte in einem kleinen Dorf in einem von schroffen Bergen umgebenen Tal, in das sich selten ein Wanderer verirrte. Die Menschen dort führten ein einfaches Leben, geprägt von ihrer täglichen Arbeit und den Geschichten, die sie sich abends vor dem Feuer erzählten. Geschichten, die der Dunkelheit, die draußen lauerte, eine Gestalt gaben.

Das Dorf wurde von einem Wald begrenzt. Er war schon dort gewesen, als sich die Vorfahren der Dorfbewohner dort ansiedelten, und niemand hatte ihn seitdem angerührt. Man munkelte etwas von den Rufen, die man angeblich am Waldrand hören konnte, und von dem Unbehagen, das jeden überkam, der sich dort länger aufhielt.

Doch das war nur Gerede. Falls man jemals Holz brauchen würde, würde man einfach hineingehen und ein paar Bäume fällen. Aber das konnte noch warten. Kein Grund zur Eile.

2.

Das Mädchen war eine Träumerin. Als sie ein Kind war, schlich sie sich hinaus, zum Feuer, zu den Geschichten. Und sie hörte von der Dunkelheit, und vom Wald, und von Geheimnissen.

Und später erfuhr sie, warum ihr Vater eines Tages nicht mehr gekommen war, um ihr gute Nacht zu sagen.

Von da an fürchtete sie sich vor dem Wald.

3.

Als sie älter war, durfte sie beim Feuer sitzen und erzählen. In ihr wuchsen aus dem Feuer und den Bergen und der Einsamkeit Geschichten, die der Rauch in den Himmel trug, und mit glühenden Wangen erzählte sie von stillen Seen und dunklen Höhlen und den Göttern.

Jedesmal, wenn sie nach Hause zurückkehrte, stand sie eine Weile am Rand des Waldes und lauschte den Stimmen, die nach ihr riefen. Sobald das Grauen zu stark wurde, ging sie.

4.

Eines Nachts kehrte sie zurück.

Niemand bemerkte sie, als sie eine Kerze nahm und in ihrem langen Nachthemd aus dem Fenster kletterte. Auf dem Weg zurück zum Waldrand begleitete sie das nasse Gras unter ihren nackten Füßen.

Sie zögerte vor der Wand aus Bäumen. Der Wind trug einen würzigen Geruch zu ihr, den sie in tiefen Zügen einatmete. Dann trat sie einen Schritt nach vorne, und noch einen, und noch einen. Bald umhüllte sie die Dunkelheit.

Sie ging tiefer, immer tiefer in den Wald hinein. Das Gesträuch wurde dichter, die nächtlichen Geräusche lauter, weiße Spinnenweben glitzerten im Schein des Kerzenlichts. Wie im Traum lief sie weiter, stillzustehen kam ihr nicht in den Sinn. Ihre Beine liefen wie von selbst, ihre Gedanken waren winzig und flüchtig wie ein Schwarm Fliegen. In kurzen Momenten des Bewusstseins genoss sie das Gefühl.

Schließlich hielt sie an. Sie stand vor einem kleinen See, der von moosbedeckter, spinnenbewebter Wildnis umgeben war. Das knorrige Gestrüpp war zu allen Seiten dicht und dornig, dünnte jedoch zum See hin aus.

Ein umgeknickter, morscher Baum hing wie ein Steg über der Wasseroberfläche. Darauf stand eine Frau, den Kopf zu Boden gesenkt. Der Wind spielte mit ihren Haaren und ließ ihre Gewänder flattern. Sie sah auf und blickte das Mädchen direkt an. Ihr Gesicht schien zu leuchten, sanft zu schimmern, wie Honig in der Sonne.

„Komm", sagte sie.

Das Mädchen erwachte aus seiner Starre und schritt auf sie zu. Kurz zögerte sie, dann setzte sie einen Fuß in das Wasser, das ihr bis zu den Knien reichte. Sie ging weiter, Schritt für Schritt, kam der Frau immer ein kleines Stück näher, doch als sie bei der Hälfte des Sees angekommen war und ihr die dunkle Nässe bis zum Hals reichte, schien jeder Schritt nach vorne sie zurückzutreiben.

Die Frau, sie konnte nur wenig älter sein als sie, trat nach vorne und ließ sich ins Wasser gleiten. Ihr schimmerndes Haar waberte auf der Oberfläche.

Als sie näher kam, meinte das Mädchen, die dunklen Tiefen des Sees an ihr riechen zu können, und den Geruch von Seerosen.

Die Frau umfasste ihre Taille und zog sie näher zum anderen Ufer, bis sie nicht mehr stehen konnte. Der See schien mit blassen, bittenden Händen an ihr zu ziehen. Ihr Gesicht war nah am Hals der Frau, die Lippen blau vor Kälte. Stille herrschte, und kein Vogel sang, als die Frau sich zu ihr hinunterbeugte und ihre nassen Lippen küsste.

Es fühlte sich an wie ertränkt zu werden, und das Mädchen versank darin. Die blassen Hände des Sees fuhren durch ihre Haare, umschlangen ihren Körper und zogen sie tiefer, tiefer, bis zum Grund.

Das Herz des Sees verschlang sie mit Haut und Haaren.

5.

Als das Mädchen die Augen öffnete, sah sie sich selbst unter sich auf der Wasseroberfläche, schimmernd und wunderschön. Die Kälte des Sees war vergangen, und alles, was blieb, war leuchtende Wärme.

Sie blickte auf. Auf der anderen Seite des Sees stand jemand. Sie lächelte ihn an.

„Komm", sagte sie.



Hi! Ich hoffe, meine kleine Kurzgeschichte gefällt euch, und ich würde mich sehr über einen Kommentar freuen. Das hier ist meine erste veröffentlichte Geschichte und ich schreibe noch nicht sehr lange, also kritisiert auch gerne, wenn irgendetwas besser sein könnte. :)

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