Der Wille des einzelnen

Erster Atemzug

Was ist deiner Meinung nach, der abscheulichste Geruch? Es gibt viele Gerüche die wirklich so schlimm riechen dass sie sich in dein Gedächtnis einbrennen, doch keiner von ihnen wird wahrlich ekliger indem man ihn multipliziert; Stelle dir einen Hundehaufen in einem leeren Raum vor, der Gestank  verbreitet sich im gesamten Zimmer, grauenhaft.
Nun klone diesen Haufen einige Male, riecht es nun ekliger? Nein, es ist als würde man schwarz versuchen schwärzer zu machen indem man noch einmal die selbe farbe darüber streicht.
Doch ein Geruch ist die Ausnahme dieser Regel, jeder kennt ihn, auch du! Nur die wenigsten wissen aber, wie schlimm dieser sein kann; der Geruch der Krankheit.

Ein kranker Mensch stinkt, nicht immer merkt er es selbst, nicht immer riecht es stark, vor allem aber riecht er nicht immer gleich.
Je nach Mensch, Zustand und allerlei anderen Faktoren riecht Krankheit anders, auch wenn es sich bei jedem um den gleichen Erreger handelt.
Viele werden nun meinen "Ach sooo schlimm riecht das nicht!" Doch diese Personen betraten wohl nie ein Zimmer welches sich dutzende Kranke teilten.
Hier wird nicht schwarz auf schwarz gestrichen, sondern eine ganze Palette mit zahllosen Nuancen an elenden Duftnoten kommt auf den Canvas der sich "Nase" nennt.

Zeitgleich versucht dein Verstand deinen Körper ruhig zu halten, welcher in höchster Alarmbereitschaft nichts lieber tun würde als von diesem Ort zu fliehen, um nicht auch das Schicksal derer die in diesem Zimmer lagen zu teilen.

Genau das, roch ich gerade.

Weder die qualerfüllten Stimmen, noch das entstellte Erscheinungsbild der Patienten bereitete mir Unwohlsein. Alles wurde überschattet von diesem unausstehlichem Geruch nach Schweiß, Körperflüssigkeiten und Bakterien dutzender Menschen.

Mein Blick fiel auf das Bett neben mir, das Verstummen der Angehörigen die an diesem standen, sagte mir dass der Moment gekommen sein musste.
Leisen schrittes näherte ich mich und streckte meinen Kopf zwischen die anderen um sehen zu können wovon nie wieder jemand sprechen würde; Der letzte Atemzug der armen Traude.
Seit wir hier lebten, war sie uns eigentlich nur bekannt als "die Nachbarstochter", doch Krankheit bringt Familien zusammen, dafür musste nur ein einzelner Betroffen sein.

So schrecklich der Tod war, genauso zog er uns Menschen auch in den Bann, daran erinnerte ich mich auf dem Weg zurück zu unserem Haus, denn auch noch Minuten nachdem Traudes Herz aufgehört hatte zu schlagen, konnten wir kaum unsere Blicke von ihr abwenden.

"Komm jetzt Adoneus! Wir müssen noch bei der Mühle vorbei!" rief mich meine Mutter von vorne, der Himmel verdunkelte sich langsam und läutete somit jeglichen Arbeitern den Feierabend ein, was für uns eher weniger erfreulich war.
"Die gute Traude… Gott segne sie, doch sie hätte sich gerne etwas beeilen können.." ächzte meine Mutter während sie die Steinstufen zur Mühle heraufjoggte. Der Kommentar verschlägt mir einen Moment sie Sprache, "Mutter.." murmelte ich mit einem entsetzten Unterton, womit ich hoffte sie kurz zum halten bringen zu können, doch sie schritt die Stufen ungestört weiter rauf.
"Wir kannten sie kaum, Junge, du hast ein gutes Herz, aber darfst selbst in solchen Zeiten deinen  Humor nicht verlieren.. glaub mir, das macht's einfacher.." keuchte sie erschöpft und klopfte kräftig an die Tür des Müllers.
Nachdenklich trat ich etwas gegen das morsche Holz der Terrasse, niemand öffnete.

Im Haus des Müllers und seiner Familie war es Stockduster, es schliefen wohl schon alle, so nahmen wir an. also begaben wir uns auf den Rückweg, geplagt durch Sorgen für den morgigen Tag, was wäre eine Bäckersfamilie ohne ihr Mehl? Wie ein Mensch ohne sein Blut, unbrauchbar!
Zwar sagte sie es nicht, doch auch das Gemüt meiner Mutter war nun getrübt, so griff ich vorsichtig ihre von der Arbeit gezeichnete Hand in der Hoffnung, so etwas Trost spenden zu können.
Hand in Hand liefen wir schweigsam den Weg entlang und summten dabei die Melodie von "Hänschen klein" vor uns her, der bedrückenden Stille entgegen wirkend.