Anfang Januar 2017
Eileen war eine Meisterin der Täuschung.
Vermutlich war ihr das nicht mal bewusst gewesen. Aber dennoch hatte sie oft davon geredet, dass sie gerne Leute verwirren würde. Es hatte als Spaß geklungen, aber niemand wusste, ob dahinter nicht vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit steckte. Aber letzten Endes hatte Eileen alle von ihnen getäuscht und verwirrt. Mit ihrem Tod. Noch vor drei Wochen hatte jeder geglaubt, dass es nun um Eileen besser bestünde und umso unvorbereiteter traf sie ihr Tod.
Natürlich hatte man die Veränderung an ihr bemerkt, als sie aus der Psychiatrie entlassen wurde, das hieß automatisch aber nicht, dass darüber gesprochen wurde. Es war schließlich eine Veränderung zurück zur Normalität oder eben eine Frage der medikamentösen Einstellung. Und jetzt stehen die meisten von ihnen hier versammelt, an einem kalten Januarnachmittag, und blicken dem Sarg hinterher, wie er in das Loch herab gelassen wird.
Dort wird sie nun ruhen, schießt es Anton durch den Kopf, das Mädchen mit der Kugel im Herzen.
Bei einer gewöhnlichen Beerdigung würden zuerst sämtliche Grabreden gehalten und anschließend der Sarg herab gelassen werden, aber Eileen's Beerdigung ist nicht wirklich gewöhnlich. Vielleicht wollte sie es so. Eine seltsame Beerdigung, genauso seltsam und verschleiert wie die Tote selbst.
Eileen's Großmutter tritt vor, eine kleine schlaksige Frau, mit kurzem weißem Haar und einem Faible für Röcke. Eine gespenstische Stille begleitet sie, während sie sich dahin stellt, wo in absehbarer Zeit der Grabstein sein wird und anfängt, darüber zu reden, wie sehr sie Eileen gemocht hatte, obwohl sie nicht einmal ihre leibliche Enkelin war und dass die Adoption das Beste war, was ihr Sohn und ihre Schwiegertochter tun konnten. Es ist unverkennbar, dass die hinterbliebene Großmutter den Tränen nahe ist, allerdings gibt sie sich nicht völlig ihren Gefühlen hin.
Ein Frösteln geht durch die Reihen, die Kälte beginnt, einem unter die Kleidung zu kriechen. Abermals breitet sich Stille aus, als Eileen's Großmutter mit ihrer Rede zu ende ist. Jelena nimmt ihren Platz ein, die Hände in den Tiefen ihrer Manteltaschen verborgen. Aus der Rechten holte sie ein Stück Papier hervor, faltet es auf und rückt ihre giftgrüne Brille zurecht, bevor sie anfängt, frei zu reden: "Anke und Jürgen haben mich gebeten, als Eileen's Freundin eine Rede zu halten und -naja- ich denke, die meisten kennen mich noch, denn Winterheim ist jetzt nicht das größte Dorf." Jelena's Blick fällt auf die Holzoberfläche im Loch, dann auf de Zettel in ihrer Hand. Sie schluckt. "Als wir klein waren, haben wir uns gegenseitig die Haare geschnitten, sehr zum Missfallen unsere Eltern. Aber ich muss ich schon sagen, dass sah unglaublich struppig aus."
Ihr Lachen ist gedeckt und sie schwebt in Nostalgie. Leichter Schnee fällt vom Himmel.
" Es kommt mir wie gestern vor, dabei ist es schon fast fünf Monate her, als wir uns über die Harley Quinn in Suicide Squad aufgeregt haben, weil sie so... weiblich dargestellt wurde. Und kurz darauf hat sie einen Platz in der Psychiatrie bekommen. Ich muss ehrlich sagen, dass ich damit gerechnet hatte, dass sie mindestens ein Jahr auf einen Platz warten müsste. Dann wäre sie erst jetzt dort." Mit jedem Wort klingt Jelena resignierter, aber sie weint nicht. "Eileen hatte es nie leicht im Leben gehabt. All die Krankheiten die sie gehabt hatte und dazu noch die Adoption. Eileen hatte mir erzählt, dass sie sich von ihrer leiblichen Mutter verstoßen fühlte. Und als ich dann auch noch umziehen musste, brach eine Welt für sie und für mich zusammen. Wir kannten uns so lange, dass es etwas Grausames für uns war und heute kann ich nur darüber lachen. Ich meine, damals trennten uns nur ein paar Straßen statt zwei Häuser und jetzt? Jetzt trennt uns der Tod. Der Tod ist zwar nicht das Ende, denke ich zumindest, aber trotzdem eine übermenschliche Barriere, die uns von den Toten trennt. Auch wenn die nächstem Tage und die nächsten Wochen und die nächsten Monate unerträglich sein werden, ist mein einziger Trost, dass Eileen nun von ihrem Leiden erlöst ist."
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VOGELFREI
General FictionDrei Wochen, nachdem Eileen aus der Psychiatrie entlassen wird, ist sie tot.