Prolog

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Chicago, Oktober 1999

Als sich der graue Himmel über Chicago fast vollständig zugezogen hat und auch der letzte klägliche Lichtstrahl unter der dunklen Wolkendecke verschwunden ist, sind die Straßen wie leer gefegt. Das Geräusch des Regens, der laut und hart auf den Erdboden aufschlägt, hallt von den Hauswänden wieder und die Pfützen aus brackigem Wasser, die den Asphalt zieren, scheinen wie ein gewaltiges, schwarzes Meer, das sich langsam in der Stadt ausbreitet. Es wächst unaufhaltsam weiter, schlängelt sich durch die Gassen und über die Dächer. Doch obwohl das Unwetter allgegenwärtig ist, herrscht trotzdem eine seltsame Stille, die alles um sich herum einzuhüllen scheint.
Es dauert eine ganze Weile, doch schließlich ertönt ein immer lauter werdendes klackerndes Geräusch, dass das monotone Prasseln des Regens übertönt. Es ist das Geräusch von Absätzen auf nassem Asphalt.

Die Frau, zu der die Absätze gehören ist jung. Zu jung, um bei diesem Wetter und um diese Zeit alleine unterwegs zu sein. Ihr Gesicht ist schmerzverzogen und die schwarzen High Heels, die sie trägt, schützen ihre Füße kaum vor Regen und Kälte. Trotzdem rennt sie unerbittlich durch die Halbdunkelheit zwischen den Hochhäusern der Stadt hindurch. Von Zeit zu Zeit zucken Blitze über den Dächern auf und lassen alles strahlend hell aufeuchten, nur um es kurz darauf wieder der Dunkelheit zu überlassen. Der Regen ist mittlerweile stärker geworden und die Tropfen prasseln immer härter auf ihren Kopf, so dass die feuerroten Haare in nassen, klebrigen Strähnen in ihrem Gesicht hänge. Doch trotzdem werden ihre Schritte nicht langsamer. Hätten die Menschen die hinter den schäbigen Mauern der Hochhäuser leben zufällig aus ihren Fenster auf die dunklen, regennassen Straßen geschaut, wäre alles was sie gesehen hätten, eine junge Frau, die auf dem Nachhauseweg vom Unwetter überrascht wurde. Keiner von ihnen hätte die Schatten gesehen, die drohen die Frau einzuholen und in denen weitaus größere Gefahren lauern, als das unangenehme Wetter. Doch selbst wenn sie genau hingesehen hätten, hätte es sie wohl nicht interessiert...

Als die Frau um die nächste Ecke biegt, verliert sie das Gleichgewicht. Ihr schmaler Körper wird mit der vollen Wucht ihrer Geschwindigkeit gegen eine der brüchigen Hauswände gepresst. Langsam sinkt sie, mit dem Rücken gegen die Wand gepresst, zu Boden. Jeder Atemzug wird von einem schmerzerfüllten Zischen begleitet und sie scheint am ganzen Körper zu zittern. Mit ihrem Handrücken wischt sie sich hektisch über das nasse Gesicht. Es dauert einige Minuten bis sie sich vorsichtig wieder aufrichtet. Aus einem Schnitt an ihrer Schläfe rinnt Blut über ihr Gesicht und vermischt sich mit den Spuren die Regen und Tränen hinterlassen haben, doch dass scheint sie gar nicht zu bemerken. Sie ist zu beschäftigt Halt an einem der Müllcontainer zu fnden zwischen denen sie noch vor kurzem auf dem Boden lag. Ihr warmer Atem hebt sich klar von der kalten Luft ab und hat sich mittlerweile etwas beruhigt. Sie beugt sich leicht nach vorne, um sich das Atmen zu erleichtern. Als sie sich sicher ist, dass ihre Lungen mit genug Sauerstoff gefüllt sind, streicht sie sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht und schaut sich um.
Doch die Ruhe ist nur von kurzer Dauer, denn schon im nächsten Augenblick zerreißt ein Schuss die Stille. Die Quelle des Geräusches scheint zwar noch ein paar Straßen
entfernt zu sein, aber der Hall, den der Schuss hinterlässt, wird durch die Gassen an den Steinmauern entlang direkt bis an ihr Ohr getragen. Instinktiv greift sie sich an die rechte Hüfte, nur um daran erinnert zu werden, dass das Gefühl von kaltem, hartem Metall gegen ihre Haut fehlt. Das ist genug, um schiere Panik in ihr aufodern zu lassen. Für eine Sekunde ist sie ganz still und lauscht in die Dunkelheit, aber dann werden Schritte lauter und sie fängt erneut an zu rennen. Wenn möglich, schneller als zuvor. Das Adrenalin in ihrem Körper lässt ihr Herz rasen und sie hört ihr Blut ungewöhnlich laut in ihren Ohren pochen. Schon nach kurzer Zeit hat sie die Orientierung völlig verloren. Sie kann nicht sagen, ob sie immer noch verfolgt wird, denn ihr Atem und das Geräusch ihrer Absätze auf dem Asphalt übertönen alles andere. In ihren Kopf ist nichts als Leere und trotzdem ist sie nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu formen. Sie ist in einer Stadt, in der sie sich nicht auskennt, mit Menschen denen sie nicht vertraut. Wohin also? Nie hätte sie gedacht, dass sie sich in dieser Situation wieder fnden würde. Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Das Safe- House ist keine Option mehr, genauso wenig wie ihr Apartment. Ihr Telefon liegt verwanzt in irgendeinem Straßengraben. Irgendwo entlang des Weges hat sie das Ziel aus den Augen verloren. Die einzige sichere Alternative scheint Chicago zu verlassen, so schnell wie möglich.
Erneut ertönt ein Schuss, diesmal deutlich näher. Sie erhöht ihr Tempo noch ein wenig, doch sie merkt, dass sie eigentlich schon längst an ihre Grenzen gestoßen ist. Plötzlich sieht sie am Ende der Gasse durch die sie läuft eine Straßenlaterne, die eine größere Straße beleuchtet. Nach ein paar hundert Metern kommt sie an der Kreuzung zum stehen. Die Straßen sind komplett leer. Sie fucht. Doch dann entdeckt sie ein Taxi, dass weiter aufwärts an der Straße vor einem Wohnhaus hält. Sie sprintet los und schafft es gerade noch vor dem Taxi auf die Straße zu springen, als es wieder los fahren will. Sie reißt die Beifahrertür auf und springt förmlich in das Taxi.

Der Fahrer, ein recht junger, bärtiger Mann, schaut verdutzt, allerdings nicht verärgert. „Miss, meine Schicht ist eigentlich schon zu ende..." Vielleicht liegt es an dem hilfosen Blick der Frau oder auch einfach an ihrem zerrütteten Aussehen, doch er bringt es nicht übers Herz die Frau wieder nach draußen in den Regen zuschicken, statt dessen manövriert er das Fahrzeug einfach wieder zurück auf die Straße. Die Frau atmet aus und entspannt sich sichtlich, dann greift sie in die Innentasche ihres Mantels und bringt 300$ zum Vorschein, die sie mit Schwung auf die Mittelkonsole knallt, doch ihre Stimme ist absolut ruhig, als sie sagt „So schnell wie möglich zum Flughafen, bitte!". Der Fahrer nickt nur erstaunt.
Am Ende der Straße zuckt die Frau plötzlich wieder zusammen. Als der Fahrer einen Blick in den Rückspiegel wirft, kann er an der Stelle an der er vor wenigen Sekunden noch gehalten hat, drei schwarze, wild-gestikulierende Gestalten erkennen. Wie automatisch drückt er das Gaspedal ganz durch und verringert seine Geschwindigkeit erst, als er die ominöse Straße lange hinter sich gelassen hat. Die Frau auf dem Beifahrersitz wirft ihm einen dankbaren Blick zu und scheint sich endlich völlig zu entspannen. Sie lehnt ihren Kopf gegen die Lehne und schließt ihre Augen, die roten Haare hängen in wirren Locken über dem ganzen Sitz verteilt. Mit einer Hand fährt sie sich durch die Haare und versucht die Knoten vorsichtig heraus zu arbeiten, die andere Hand legt sie schützend über ihren Bauch. Erst auf den zweiten Blick realisiert der Fahrer den Sinn dieser Geste und ist auf einmal unglaublich froh, an der verlassenen Straße angehalten zu haben.

Somewhere along the way Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt