Song Of Myself

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Er fühlte sich wie eine Nachtigall, die in einen Käfig eingesperrt wurde. Er fühlte sich, wie eine Hure für die kalte Welt, in der die Sonne auf ewig schlief. Jeder tiefe Atemzug vergiftete seine Lungen. Immer mehr und mehr. Je länger er hier war.

Schritte näherten sich. Es waren weibliche Schritte, leicht an dem Klackern von Absätzen zu erkennen. Er sah auf. Die dunklen Augen wirkten müde, die Haut war runzlig geworden. Sie sah alt aus. Viel älter als sie eigentlich war.

„Hast du ihn, meinen Bruder, unseren Herren, jemals lächeln sehen?", stellte er eine Gegenfrage, auf die stumme Angelegenheit der Frau. Schon zuvor wusste er, dass dieses Gespräch kommen würde. Jedoch hätte er nicht damit gerechnet, dass es so einseitig sein würde.

Dabei hätte er nicht erwarten dürfen, dass sie mit ihm spricht, er ist ein Gefangener, ein verurteilter Mörder, dem niemand die Wahrheit glauben würde. Würde er nicht hier drinnen sitzen, seine Lungen mit dieser stickigen Luft vergiften, seine höchsten Hoffnungen für immer aufgegeben haben, dann würde er dies in einem Lied verfassen. „Song of Myself", würde es heißen.

Doch stattdessen saß er hier, eine Nachtigall in einem Käfig, als Hure für die kalte Welt mit der ewig schlafenden Sonne. Verurteilt als Mörder, der er nicht war. Er hatte für seinen Bruder, seiner höchsten Hoffnung, seinen Herren, lediglich den letzten Befehl ausgeführt, ihn von der ewigen Qual zu befreien. Für immer.

Für seinen Bruder, war das Gras schon länger nicht mehr so grün gewesen, wie es war. Das phosphoreszierende Licht war für ihn nicht mehr so leuchtend gewesen, wie es war. Die Nächte enthielten für ihn kein Wunder mehr, seine Freunde verließen ihn. Nur er, sein Bruder, der angebliche Mörder, und die Frau umgaben sich noch mit ihm.

„Er war ein geschlagener Hund, der versuchte alles um sich herum zu beißen. Jeder Stolz, den er einst besaß, war aus seinen Augen gewichen." Die Frau öffnete die spröden Lippen, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. „Sag jetzt nicht, dass du weißt, wie er sich gefühlt hat. Das kannst du nicht wissen. Ich konnte es auch nicht. Niemand konnte es. Und weder du, noch ich oder sonst jemand, werden jemals sagen können, wie sich jemand fühlt." Abrupt und beleidigt schloss sie ihren Mund wieder, schaute ihn nur düster an.

Verbittert seufzte er, ehe er schließlich das aussprach, worüber er schon die ganze Zeit nachdachte: „Wer seit ihr eigentlich, dass ihr einen Bettler, eine Hure, einen gefallenen Politiker, einen Poeten verurteilt? Wer seit ihr, dass ihr immer behauptet, zu wissen, was andere fühlen? Verdammt nochmal, wer seit ihr alle, die sich das Recht herausnehmen, einen Missetäter zu verurteilen, obwohl ihr selbst welche seit?" Seine zuvor wispernde, raue Stimme, wurde immer lauter und lauter, bis er letztlich die Frau anschrie.

„Wie oft habe ich und er auch – wie er mir in seinen letzten Minuten anvertraute – gewünscht, dass du zu uns sagen würdest, dass wir jede Regel vergessen sollen, einfach spielen sollen. Einfach ein Kind sein sollen, dass Mist baut, sich in Gefahr begibt, sich verletzt. Doch es blieb nur ein Traum, ein Wunschdenken." Seine Stimme, war nun wieder ruhig. Die Frau erwiderte nichts, schaute ihn einfach nur finster an.

Eine Stille breitete sich aus, er erhoffte sich, dass sie etwas sagen würde. Doch schließlich ergriff er erneut das Wort, als ihm klar wurde, dass sie ihm nicht antworten würde. „Gewährst du mir vor meiner Hinrichtung morgen, wenigstens einen Spaziergang mit meiner Familie?" Sie antwortete ihm nicht, lächelte ihn nur an und ging dann davon. In dem Moment wurde ihm bewusst, dass seine Mutter ihn nicht mehr liebte. Wahrscheinlich niemals geliebt hat. 

Song of MyselfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt