2017 - Nicht jetzt, bitte

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Wir stehen auf der Straße, es regnet. Das Vergessen strömt in die Gullys. Man sollte das Prasseln hören können.

Aber ich höre es nicht, wir hören es nicht. Denn wir schreien. "Erkennt uns endlich an! Wir sind das Niemandsland!" Die allmonatliche Demo geht weiter. Es ist großartig. Wir werden es schaffen! Wir schaffen es! Wir gründen unseren eigenen Staat!

Ich halte das Transparent, auf dem steht: "Für unser Land. Für eine neue Welt. #Neuland" Anna hält das andere Ende. Sie brüllt mit starkem Akzent, sie spricht kein deutsch, nur spanisch, und unsere Parole haben wir vorher stundenlang geübt. Sie ist immer so nervös, es zu vergeigen, dass sie die Hälfte der Silben vergisst.

Das spielt keine Rolle. Es ist ein Gefühl der Allmacht, das uns umgibt. Es ist ein Gefühl des Erfolgs, des Wissens, dass WIR es schaffen können. Es schaffen werden! Die erste friedliche Staatengründung seit ... ja, seit wann überhaupt? Spätens seit 1989, falls das als Gründung zählt.

Und wir, wir! - ein paar Jugendliche und Studis irgendwo aus Europa - stehen jetzt mit ihnen auf einer Stufe. Wir!

Ich habe ihn nie gesehen, der da vor mir steht. Ein Junge, sechzehn, siebzehn, achtzehn vielleicht. Verstrubbeltes Haar, dicker Schal, aber im T-shirt. Sein Gesicht sähe großartig aus, wenn er mal lachen würde, schießt es mir durch den Kopf.

"Ist hier noch Platz?", fragt er. "Ja", antworte ich verwirrt. Das hier ist eine Großdemo, kein Sitzkonzert.

"Bist du öfter hier?", fragt er. Etwas verwirrt, weil er mich anquatscht, antworte ich: "ja – auf jeder Demo. Seit es hier losging." "Ich bin erst mit meinen Kumpels hergekommen – vor ein paar Wochen; aber dann..." Es klingt einstudiert. Es klingt, als wäre es ihm ungeheuer ernst. Ich will es nicht hören. Aber ich kann ihn auch nicht stoppen.

"Sie sind alle weg, vor vier Wochen schon. Ich kenne hier niemanden. Am Anfang war es richtig gut, ich lernte alle möglichen Leute kennen, ich wollte einem anderen meine Liebe gestehen; und dann ... von heute auf morgen, gefühlt, war keiner mehr da. Keiner wollte mehr zuhören, was ich zu sagen hatte. Keiner mit mir reden. Keiner."

Er redet weiter, obwohl ich mich längst weggedreht habe. "Da gibt es einen, der kann großartig viel Zeug. Ein Mädchen, das wahnsinnig kreativ ist. Aber wenn ich was erzählen will, sagen sie immer nur ,nicht jetzt, bitte, ok?' Ich sag dann zwar immer ok, denn was soll ich machen?"

Tränen stehen ihm in den Augen. Ich will es nicht hören. Eigentlich nie. Aber vor allem: Nicht jetzt, bitte.

Während er sich die Tränen wegwischt, gehe ich weiter, die anonyme Masse umhüllt mich; sie ist der Mantel des Schweigens.

Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Und wenn doch, wüsste ich, was ich ihm sagen würde: Nicht jetzt, bitte.


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An alle

Danke, dass ihr mir eure Aufmerksamkeit schenkt. Danke, dass ihr das hier lest.

Fügt die Story eurer Bibliothek hinzu, wenn ihr wissen wollt, was dort noch so vor sich geht.

Ich werde es euch erzählen.

LG asqiir

Erzählungen vom Weltenzweig - Szenen aus einem alternativen UniversumWhere stories live. Discover now