2017 - Wir verstummen nie

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Wir verstummen nie

Die Stimmen verstummten nie. Die Karawane von dutzenden, ja, hunderten Jugendlichen bahnt sich ihr Weg durch das schlammige Marschland wie ein Flecken Öl der allmählich in ein Tal hinab gleitet. Warum hatte er sich dieser wahnwitzigen, zum Scheitern verurteilten Aktion nur angeschlossen? Die Stimme in seinem Kopf verstummte nie. Doch er kann nicht zurück, sein Vater hatte ihm explizit verboten zu kommen. Seine Mutter hatte nichts gesagt, sondern ihn nur vorwurfsvoll angeblickt, wie soll er seine Nacht-und-Nebel-Aktion nur erklären? Nein, er kann nicht zurück.

Die Stimmen verstummen nie. Gefühlt ist er der Einzige, der schweigt, er, der sich nur zwischen der Masse bewegt, nicht in ihr; er, der nicht Teil von ihr ist, wie ein Tropfen Wasser im Ölbottich.

Diese nie verstummende, sie selbst genügende Masse war es, die ihn so begeistert hatte, dass Zusammengehörigkeitsgefühl, das Adrenalin, dass einem bei einer unglaublichen Aktion wie dieser unweigerlich in die Adern schoss.

Doch das Adrenalin ist verflossen, jetzt ist er nur noch ein belgischer sechzehnjähriger auf einer norddeutschen Kuhweide, ihm ist kalt wegen des Nieselregens, niedergeschlagen wegen des trüben Tages, so sicher wie die Matschwüste, durch die er seit Stunden stapfte; die Gurte des Rucksacks schneiden sich schmerzhaft in sein Kreuz.

Und sie verstummten nie. Was bei all den Stimmen, die ihm etwas einreden wollten, so hasste, ihn an der Niemandsland/Neuland-Bewegung so sehr fasziniert.

O ja, er war fasziniert gewesen. Jetzt ist er nur müde. Die Füße gingen vorwärts, er nahm nicht war, was um ihn herum gesagt wurde, doch die Stimmen verstummten nie.

Vor Monaten hatte er im Internet zum ersten Mal von der Niemandsland/Neuland-Bewegung gehört. Sofort war er begeistert gewesen. Über allen Streit hatte er sich hinweggesetzt, hatte sein Sachen gepackt. Er war wie elektrisiert, voller Ideale und Entschlossenheit. Denn er war nie verstummt, als er mit ihnen geredet hatte. Und auch sie verstummten nie.

Jetzt weiß er nicht mehr, was er will. Die Vorstellung, zur größten Jugendbewegung zu gehören, war großartig gewesen. Nach all den Berichten von all den – zumeist muslimischen – erfolgreich real aufgebauten Utopien, die das Netz überschwemmt hatten, sogar die herkömmlichen Medien erobert hatten, hatten sie selbst, Jugendliche aus ganz Europa, nicht anders gekonnt, als es selbst versuchen zu wollen.

Über Monate hatten sie diskutiert, er hatte als einer der ersten darüber nachgedacht; doch bis zuletzt, bis es nicht mehr anders, war es für ihn nur ein Gedankenspiel gewesen.

Und sie verstummten nie.

Aber er kann nicht mehr. Die elektrisierte Aufregung ist einer Müdigkeit gewichen, einer Inhaltslosigkeit, einem hohlen Gefühl tief im Innern. Die elektrisierte Aufregung, die Computer entsprechend geneigten Leuten zu geben pflegen, hat ihn hier, auf einer verregneten Kuhweide, verlassen.

In all dieser Unsicherheit bleibt er stehen. Er verstummt.

Ein braunhaariges Mädchen tippt ihn an: „He, alles gut bei dir?" „Weiß nicht – irgendwie sehe ich nicht mehr, was ich hier soll." Er weiß auch nicht, warum er ihr das erzählt. „Wir machen die Welt zu einem besseren Ort!"

In ihrer heiteren Stimme, den braun glänzenden Augen und ihren breiten Grinsen sieht denselben ansteckenden Idealismus, der ihn selbst hierher geführt hat.

„Das kann doch gar nicht klappen. Irgendwas geht immer schief."

„Geht es nicht.

Denn wir verstummen nie."


Siehe auch: Mein Blog: asqiir.blaupost.de/metajournal

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⏰ Last updated: Feb 17, 2018 ⏰

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