Kapitel Eins

7 1 1
                                    


Wir lassen unser Leben an uns vorbei ziehen. Wir denken, wir können alles auf später verschieben und haben alle Zeit der Welt. Doch Zeit ist nicht unendlich. Sie ist der meist begrenzte Rohstoff der Welt.

Ich hatte Zeit auch immer als selbstverständlich angesehen. Bis zu dem Tag, an dem ich zu einer wissenschaftlichen Berühmtheit wurde.

In meiner Welt werden Babys kalkuliert. Ärzte erklären den Paaren mit Kinderwunsch, wann sich eine Schwangerschaft lohnt und wann sie am idealsten ist. Die unschuldigen, nichtsahnenden Kinder, die nur in einer friedlichen, unbeschwerten Welt aufwachsen wollen, werden direkt nach der Geburt ihren Eltern für wenige Stunden entrissen. Die entblößte Mutter bekommt ihr Kind nicht zu Gesicht, bis dieses getimed ist.

Neugeborene werden von den Krankenschwestern in einen isolierten Raum gebracht und von verschiedenen hochtechnologischen Geräten untersucht, die berechnen, wie alt das Kind wird. Sie berechnen den genauen Todestag der Babys.

Von einer gesonderten Maschine wird den Kindern ihr Ablaufdatum auf den Unterarm tätowiert. Es ist wie das Mindesthaltbarkeitsdatum mit dem Strichcode auf Lebensmitteln. Wir Menschen sind Lebensmittel, die nach dem Ablauf weggeschmissen und vergessen werden.

Durch die fortgeschrittene Technologie leben fast alle Bewohner der Erde mindestens 70 Jahre. Auch ich sollte erst am 15. September 3024 sterben und so machte ich mir keine Gedanken über die Zeit. Ich hatte noch über 50 Jahre zu leben, die ich mit anstrengender Arbeit, nervenden Kindern und lauten Nachbarn verbringen wollte.

Doch am 16. Juni 2070 wurden meine Pläne auf Eis gelegt. Nein, sie wurden in das Eis getreten und gingen laut schreiend in der Zeit unter. Sie schlugen mit ihren Ideen um sich und versuchten mit angespartem Geld wieder an die Oberfläche zu paddeln, doch Chronos hatte sie fest in seinen Fängen.

Es war ein lauwarmer Sommermorgen, als ich am besagten Tag zur Uni fuhr. Aus meinen Kopfhörern drang laut die Musik meiner Idole. Zwillinge, die in ihren 18 Jahren schon so viel erreicht hatten. Sie hatten ihren Traum vom Musik machen nie aufgegeben, egal wer sich ihnen in den Weg gestellt hatte.

Die Bahn wackelte nicht. Man konnte in den öffentlichen Verkehrsmitteln jemanden operieren, ohne dass ein Schnitt daneben ging. Deshalb konnte ich auch in Ruhe meinen Stichpunktzettel für die Präsentation, die ich heute halten musste, fertig stellen und dabei meinen Kaffee auf dem Sitz neben mir stehen lassen, ohne Angst, dass das heiße Himmelsgetränk meine weiße Hose ruinierte.

Beim Schreiben fiel mein Blick auf mein Timer-Tattoo und ich seufzte zufrieden. September war ein schöner Monat zum Sterben. Wenn die Bäume von manchen roten und gelben Blättern durchzogen waren, die der Pflanze ein außergewöhnliches Aussehen verliehen und sie so für mich noch interessanter machten.

Jemand zupfte an meinem Kopfhörer und ich wirbelte aufgeschreckt nach links. Neben mir saß breit grinsend eine hübsche junge Frau mit peppigen schwarzen Haaren und leuchtenden grünen Augen. Ich lächelte sie an und zog die Hörer aus meinen Ohren.

"Wunderschönen guten Morgen, Olympia!", flötete die Frau und zog mich in eine feste Umarmung, durch die ich fast meinen Kaffeebecher umgeschmissen hätte.

"Guten Morgen, Nevada", antwortete ich, während sie mich wieder losließ und ihre Haare richtete. Sie hatte ihre flüssige Kohle zu verspielten Wellen gelockt und einzelne Strähnen zu kleinen Zöpfen geflochten, durch die sie etwas Wildes an sich hatte.

"Bist du bereit für den letzten Unitag?" Meine beste Freundin lehnte sich elegant gegen die Lehne und überschlug ihre meterlangen Beine. "Ich bin es so gar nicht. Meine Schwester hat heute meinen Tee umgeworfen und dabei meine Mindglasses getroffen. Kommst du heute Nachmittag mit zum Mind-Store?" Sie schaute mich abwartend an.

Ich nickte lächelnd. Sie redete viel, was mir wirklich an ihr gefiel, weil ich eher der zurückhaltende Typ war, der bei fremden Menschen keinen Ton über die Lippen bringen konnte. Nevada konnte mich nicht mal überreden auf diese und jene Festivals mitzukommen, die sie fast jedes zweite Wochenende besuchte. An den Wochenenden dazwischen traf sie sich meistens allein mit mir. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie meine Art so akzeptierte, wie sie war, und das obwohl Nevada ein aufgedrehter, Gesellschaft suchender Mensch war. Sie hasste Einsamkeit, genauso wie ich sie liebte.


Etwa vier Stunden später verließ ich meinen letzten Kurs vor den Semesterferien und stürmte zur Goethe-Statue, die den Mittelpunkt des Sprachen-Campus bildete. Nevada und ich hatten uns ausgemacht, uns hier zu treffen, um zum Store zu gehen und ihre Brille reparieren zu lassen.

Ich setzte mich auf eine leere Bank am Südende des Platzes. Mindglasses waren seit mehreren Jahren sehr beliebt. Ich hatte gehört, dass es früher vor 50 Jahren Smartphones gab, die man in der Hand halten und antippen musste, um zu fotografieren, zu chatten oder jemanden anzurufen. Heute hatten wir dazu diese speziellen Brillen, die zwar ein Vermögen kosteten, aber sehr handlich und nützlich waren.

Mit Hilfe eines Chips, der dem Besitzer im Kopf platziert wurde, erkannte die Brille Gehirnströme und setzte diese, wenn es ihr möglich war, um. Ich verstand selbst nicht viel von Technik, weshalb ich auch nicht verstehen konnte wie das funktionierte, aber bisher hatte es damit keinerlei Probleme gegeben. Ich hatte nie von Unglücken oder sonstigem aufgrund der Brille gehört.

Nevada schwärmte nur von ihr und auf die Frage meinerseits, ob das Einsetzen des Chips weh getan hatte, antwortete sie, dass es ihr überhaupt gar keine Schmerzen bereitet hatte.

Die Ärzte heutzutage waren so gut ausgebildet, dass es für sie ein Leichtes war, einen Mikrochip an einem menschlichen Gehirn zu platzieren.

Eine kühle Brise wehte mir meine Haare aus dem Gesicht. Von Nevada noch immer keine Spur.

Plötzlich breitete sich ein Kribbeln auf meinem Unterarm aus. Ich wusste genau, welche Stellen meines Körperteils es betraf, da ich diese schon unzählige Male angestarrt habe. Das Prickeln wurde zu einem Stechen, das meinen ganzen Unterarm, auf dem das Tattoo war, lahmlegte. Ich biss die Zähne zusammen und riss meinen Jackenärmel hoch.

Die schwarzen Zahlen schienen vor meinen Augen zu verschwimmen und ich gab einen unterdrückten Schrei von mir. Mit der linken Hand drückte ich auf die schwarze Farbe, im Versuch den Schmerz zu lindern, doch es half nichts und ich begann leise zu wimmern.

"Lym!", rief jemand hinter mir, doch ich konnte mich nicht umdrehen. Das Stechen zog sich immer tiefer in meinen Arm hinein. Es fühlte sich an, als würde mein Knochen die schwarze Tinte zu sich in meinen Körper ziehen, um sie zu entfernen.

Nevada stürzte neben mich und ihr Blick huschte kurz über mein rotes, gequältes Gesicht, bevor sie meinen Unterarm anstarrte. "Ich rufe den Notarzt!", haspelte sie und wühlte in ihrer Tasche nach etwas. Dann hielt sie inne und starrte kurz ins Leere. "Frag jemanden!", schrie ich nun vor Schmerz gekrümmt.

Nevada hatte ihre Brille gesucht, doch die war durch den Tee heute morgen unbrauchbar. Sie sprang auf und rannte auf einen Mann zu, während ich keuchend den Blick zurück auf meinen Unterarm senkte. Was passierte hier?

Nach einer Minute kam Nev wieder und drückte auch ihre Hand auf die höllisch schmerzende Stelle. Sie flüsterte mir beruhigende Worte zu, die ich aber nicht vernahm, weil der Schmerz alle Sinne nach und nach lahm legte. Kurz bevor der Notarzt kam, als Nev aufgestanden war und die Sanitäter mit den Armen zu uns winkte, fielen meine Augen zu und ich verlor das Bewusstsein.


Als Letztes wurde mir klar, dass ich nur durch Schmerz das Bewusstsein verlor. Da sollte mir mal einer sagen, wir Menschen und die Medizin hätten uns weiter entwickelt.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 26, 2017 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Against timeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt