Das Wände des Zimmers waren komplett weiß gestrichen, aber die Decke war himmelblau und hatte aufgemalte Wolken. Durch Fenster bis zur Decke fiel Tageslicht herein, doch als ich genauer hinsah bemerkte ich, dass man dadurch nicht den garten sehen konnte, durch den ich gekommen war, sondern eine große Wiese, durch die sich ein kleiner Bach schlängelte. Vor der Fensterfront stand ein Drehstuhl, der mir abgewandt war. Als ich langsam die Tür hinter mir schloss, machte er allerdings einen Ruck und drehte sich mir zu.

Auf dem Stuhl saß ein sehr alter Mann, der ausnahmsweise mal normal aussah. Er hatte weder sppitze Ohren, noch Flügel oder andere Besonderheiten. Er hatte weiße Haare und einen Weihnachtsmannbart. Seine dunkelbraunen Augen waren von Lachfältchen umgeben und schauten mich freundlich an.

Er lächelte mir zu und deutete auf einen hellgrünen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs ihm gegenüber.

"Setz dich."

Behutsam ließ ich mich auf dem Sessel nieder und sank auf der Stelle so tief ein, dass es schwierig werden würde, schnell rauszukommen, falls der alte Mann doch  nicht so freundlich war, wie er tat. Noch wirkte er allerdings ziemlich friedlich. Das änderte sich auch nicht, als er anfing zu sprechen:

"Hallo Lia", begrüßte er mich, "es ist schön dich zu sehen. Wir haben schon auf dich gewartet."

Er bemerkte anscheinend meinen sehr verwirrten Gesichtsausdruck. "Ich weiß, du kennst mich nicht. Aber ich hoffe, dass wir uns bald besser kennen lernen. Dazu solltest du wahrscheinlich erst einmal wissen, worum es her überhaupt geht. Deswegen schlage ich vor, dass ich dir das in Ruhe erklären werde, damit alles klar wird. Du wirst etwas zu trinken brauchen."

Unter seinem Tisch holte er ein Glas und eine Flasche mit einer roten, schäumigen Flüssigkeit heraus, die er ins Glas goss. Skeptisch beobachtete ich ihn dabei.

"Keine Sorge", lachte er, als er dies bemerkte, "das ist Himbeersirup. Ich will dich schon nicht vergiften. Wir brauchen dich doch noch."

Vorsichtig nippte ich an dem Glas. Es war tatsächlich Himbeersirup, deswegen nahm ich einen großen Schluck. Schließlich stellte ich das Glas wieder auf den Tisch und lehnte mich im Sessel zurück. Mittlerweile war ich neugierig auf die Sache geworden. Herausfordernd sah ich dem alten mann in die Augen.

"Dann lassen sie mal hören."

Auch der alte Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und prostete mir seinem eigenen Glas Himbeersirup zu. Dann begann er zu erzählen:

"Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Rinos. Mir gehört dieses Grundstück, also die Villa und der Garten. Du fragst dich wahrscheinlich, warum du mich noch nie gesehen hast, immerhin wohnst du praktisch gegenüber. Aber das liegt daran, dass ich das Grundstück schon sehr lange Zeit nicht mehr verlassen habe. Das hat zwei Gründe. Einmal ist es nicht notwendig, weil alles was ich brauche hier ist. Zweitens kann ich hier auch nicht weg, nicht einmal, wenn ich wollte. Denn sobald ich die Außenwelt betreten würde, könnte ich nie wieder zurückkommen. Zumindest im Moment noch nicht. Den Grund dafür erkläre ich dir später.

Du hast ja schon ein paar von unseren Leuten hier kennengelernt. Leras und Niemand sind ganz begeistert von dir. Das wichtigste ist aber, dass du weißt, was dieses haus eigentlich ist. Auf dem Weg zu diesem Zimmer, werden dir vielleicht die vielen verschiedenen Türen aufgefallen sein. Hinter jeder der geschlossenen Türen verstecken sich viele weitere und hinter allen versteckt sich eine Geschichte.

Das sind nicht Geschichten, die du kennst, du wirst keine davon kennen. Diese Geschichten wurden ausgedacht, einige sogar aufgeschrieben, aber dann vergessen. Dir werden Wesen begegnen, von denen du noch nie gehört hast oder dir überhaupt nur vorstellen kannst. Aber sie alle haben nur ein Ziel: wieder gefunden und gehört zu werden. Meine Aufgabe ist es, die Geschichten wieder zu ihrem Verfasser zurückzubringen und dafür zu sorgen, dass sie wieder ans Licht gelangen. Hier kommen wir wieder auf die Türen zurück.

 Bei jeder Tür ohne Schlüsselloch oder mit Schlüssel ist es uns gelungen, die Geschichten wieder zu ihrem Besitzer zurückzubringen. Aber manche Geschichten sind geschützt, verschlüsselt. Um diese Türen zu öffnen und die Geschichten dahinter zu befreien, müssen wir die Codes knacken. Und hier kommst du ins Spiel. Es gibt eine sehr alte Legende, dass nur jemand, der noch an die wahre Macht der Bücher und Geschichten glaubt, in der Lage ist, diese Türen zu öffnen. Du bist so jemand. Du hast nie daran gezweifelt, dass es Leras oder Niemand wirklich gibt. Und im Gegensatz zu so vielen anderen in deinem Alter, bist du weder dem Konsum- noch dem Technikwahn wirklich verfallen und gibst Büchern die Chance, dich in andere Welten zu entführen. Vielleicht entdeckst du aber hinter der einen oder anderen geöffneten Tür eine Geschichte, die dir bekannt vorkommt, weil wir sie wieder dem Verfasser zurückgegeben haben."

An dieser Stelle unterbrach ich ihn: "Es gibt da ein paar Sachen, die ich nicht verstehe. Warum können Sie diese Codes nicht knacken, sie glauben doch bestimmt auch an die Macht der Bücher. Und wie bekommt man die 'befreiten' Geschichten wieder zurück an den Verfasser. Sie haben doch gesagt, Sie verlassen niemals das Gelände?"

Rinos lächelte mich an: "Das wollte ich noch erklären. Um deine erste Frage zu beantworten. Ja, ich glaube noch an die Macht der Bücher, aber nur jemand aus der Außenwelt kann diese Aufgabe erfüllen. dafür bin ich schon zu lange hier. Und zu deiner zweiten Frage: Ich kann das Gelände nicht verlassen, bis nicht jede Geschichte ihren Besitzer wiedergefunden hat. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen und bis dahin kann und werde ich hier nicht weggehen. Wie die Geschichten zu ihrem Besitzer zurückfinden wirst du hoffentlich bald selber sehen, sofern du unseren Auftrag annimmst."

Er sah mich fragend an. Ich war noch etwas skeptisch.

"Ich weiß nicht", antwortete ich wahrheitsgemäß, "ich meine, ich hab ja auch noch Schule und ein Leben außerhalb. Das will ich auch nicht vernachlässigen."

Rinos wirkte erleichtert. "Das ist überhaupt kein Problem", sagte er, "in der Zeit, die du in den Geschichten bist, bleibt die Zeit in der Außenwelt stehen. Du hast also alle Zeit, die du brauchst."

Das war mir neu. "Was meinen sie mit 'in den Geschichten'?"

"Wenn du dich entscheidest, unseren Auftrag anzunehmen, wirst du Anhaltspunkte brauchen, anhand deren du dich auf die Suche nach den Codes und Schlüsseln für die verschlossenen Türen machst. Dazu suchst du in anderen Geschichten, wo wir glauben, dass sie dir weiterhelfen könnten."

Langsam fing die Sache an, interessant zu werden. Mein Leben lang hatte ich Bücher geliebt, mich in die Geschichten hereingeträumt und mir selbst Geschichten ausgedacht. Die Vorstellung, wirklich in Geschichten drin zu sein, sie mitzuerleben und mitzubestimmen zu können, lockte mich mehr, als ich zugeben wollte. Bedenken hatte ich trotzdem noch. Immerhin wusste ich nichts über diesen Typen. Er könnte mir hier auch die verrücktesten Sachen erzählen und sobald ich durch eine Tür getreten wäre, diese hinter mir zustoßen, mich einsperren und sonst was mit mir machen. Aber konnte jemand mit Weihnachtsmannbart wirklich so böswillig sein. Leras und Niemand waren auch sehr nett und ich war mir sicher, dass sie ehrlich zu mir gewesen wären, wenn an der Sache etwas faul war.

"Angenommen, ich sollte, rein theoretisch natürlich nur, der Sache zustimmen, wann würde es denn dann losgehen?", fragte ich vorsichtig.

"Also in diesem rein theoretischen Fall, würde ich morgen vorschlagen", entgegnete Rinos lächelnd.

Ich überlegte. Morgen war Sonntag und Rinos hatte gesagt, dass die Zeit in den Geschichten stehen bleiben würde. Ich könnte also ganz entspannt hierher kommen, ein paar Abenteuer erleben und danach mich zuhause aufs Bett legen und Filme schauen. Gleichzeitig hätte ich auch noch etwas gutes passieren und viel konnte bei der Sache wahrscheinlich nicht passieren.

Mit großen Mühen richtete ich mich aus dem gemütlichen Sessel auf und sah Rinos in die Augen. Diesmal war es an mir zu lächeln.

"Dann schlage ich vor, wir sehen uns morgen."

Mit diesen Worten verließ ich das Zimmer, das Haus und sobald die Gartentür hinter mir zuschlug, konnte ich den nächsten Tag kaum erwarten.

Das Labyrinth der versteckten Geschichten Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt