Nachgeschmack

Parallelen haben keinen Schnittpunkt

„Mathe ist doch super, weil alles Fakt ist. Da läuft man nie Gefahr, etwas Falsches hineinzuinterpretieren."

„Alles ist Mathe, alles ist Zahl, alles kann berechnet werden."

„Ein Leben ohne Mathe ist doch gar nicht möglich. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wo man das alles braucht."

Ich gebe mich geschlagen, schließe die Augen und halte mir die Ohren zu. Nullen und Einsen reihen sich in meinem Kopf, verloren im Koordinatensystem ohne Fluchtvektor. Vielleicht haben sie recht. Vielleicht ist alles viel leichter, wenn man Dinge akzeptiert, die man nicht ändern kann. Vielleicht ist alles viel leichter, wenn wir das Faktenwissen lernen und das Hinterfragen einfach sein lassen.

Denn Parallelen haben keinen Schnittpunkt.

Aber so sehr ich mich auch quäle, Graphen zeichne, Punkte berechne, in die Bücher starre... Ich lebe für das zweischneidige Schwert, das Für und Wider, das Pro und Contra, das auf der einen und auf der anderen Seite und vor allem für das Ungewisse zwischendrin. Schließlich gibt es manchmal einfach kein Richtig oder Falsch, kein Gut oder Böse. Nur Gedanken, Gefühle und Verlangen. Aber Interpretation ist nicht Fakt, kann nicht für Voll genommen werden, ist Auslegungssache, führt zu keinem Resultat.

Denn Parallelen haben keinen Schnittpunkt.

Und seit wir uns kennen führen unsere Wege in die gleiche Richtung, derselbe Horizont, der vor uns liegt. Wir reden über eine ähnliche Reise, ähnliche Ziele, die gleiche Antriebskraft. Rennen zusammen, der Sonne entgegen, niemals Hand in Hand. Weil da kein Schnittpunkt ist, an dem wir uns treffen können. Keine Möglichkeit, uns jemals zu berühren, gemeinsam weiter zu laufen. Weil unsere Leben parallel verlaufen. Ein Fakt, ganz einfach.

Ich interpretiere trotzdem. Weil vielleicht nicht alles viel leichter wird, wenn wir uns über das Faktenwissen hinwegsetzen, Naturgesetze ignorieren, den Schnittpunkt einfach selbst einzeichnen. Aber ich weiß, dass es nicht ohne geht. Dass wir nicht rechnen können, ohne vorher zu schreiben. Nicht entscheiden, ohne vorher alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Nicht lieben, ohne alle Grenzen außer Acht zu lassen.

Denn Parallelen haben keinen Schnittpunkt.

Aber wer hat gesagt, dass das Koordinatensystem keinen Ausgang hat?