Teil 1. Mensch. Kapitel 1. Am Ende

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Der Sonnenaufgang schickt die Nacht schlafen

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Der Sonnenaufgang schickt die Nacht schlafen. Hinter mir streckt er sich langsam auf  wie ein orangerotes Raubtier, dass sich sogleich an mich heran schleichen und mir ins Genick springen würde. Ich schien ihm ein Opfer zu sein. Aber ich hatte einen Plan und jetzt die Gelegenheit, ihn zu verwirklichen. Ich weiß, dass er lauert, zeige ihm die kalte Schulter. Ich ignoriere ihn.

Denn vor mir liegt das salzige Schwarz der Tiefe, um mich in sich aufzunehmen. Die Wellen hatten sich zurückgezogen. Das Wasser hatte sich geteilt. Der Weg nach Westen war frei. Meine Füße sanken nicht weiter in den Dünensand ein. Ich suchte noch einmal einen festen Stand. Dünengras schmiegte sich an meine Waden.

Es ist der Moment der Entscheidung: Bleiben oder gehen?

Wolken ziehen auf, um mir Wind zu geben. "Ich werde euch brauchen, euch dort oben, meine Gefährten - später. Erst habe ich diesen Weg zu gehen, den mir die Ebbe eröffnet hat." Der Schlick auf dem Watt spiegelte in goldbraunen Farben das erste Licht meines wohlmöglich letzten Tages in diesem Leben. Ich war dieses Lebens müde. Doch wenn ich die Dunkelheit mit ihrem Wasser noch erreichen wollte, musste ich mich beeilen. So rief ich den Wolken einen letzten Gruß zu: "Ich werde hinabsteigen in die Finsternis, um mich dieses lästigen Menschenkörpers und seines Lebens zu entledigen. Keine Strömung wird mich oder diese meine gefallene Hülle zurück bringen, zurück an Land."

Ich blickt nicht zurück. Meine einzige Sorge jetzt noch ist, dass ich die wärmenden Strahlen der aufgehenden Sonne auf meiner Haut als angenehm empfinden könnte, als ein Gefühl. Einst hatte ich - sie - geliebt.

Ein letzter Gedanke an die Familie: <<Lebt wohl, ihr, die ihr mich geliebt habt. Ihr werdet es nicht verstehen. Ich habe euch nie geliebt. Ich konnte nicht. Denn ich bin nicht von dieser Welt. Ich gehöre nicht hierher.>>

Das Einzige, was ich von der Welt hinter mir mitnehmen wollte, war das Herz eines lieben und liebenswerten Menschen in meiner Brust. Dieser mein gebrochener Muskel scheint von außen betrachtet häßlich und abstoßend. Über und über mit schwarzen verkrusteten Narben bedeckt, sickert dunkles Blut aus Löchern im Schatten der einen oder anderen Wunde hervor. Aber im Inneren ganz hinten in einem verborgenen Winkel unter Verbitterung und Gleichgültigkeit begraben, strahlt mein wahres Herz - ein Kristall in der unschuldigen Reinheit eines Kindes und in allen leuchtenden Regenbogenfarben. Dieses Herz soll mich immer an jenen Tag erinnern, an dem meine Tränen versiegten, weil mir der Schmerz zu groß war. Seitdem hatte ich nie wieder geweint.

Einige Zeit nach Enttäuschung, Wut und Trauer atmete ich das alles in einer sternenklaren Winternacht aus. Meine Sehnsucht nach Liebe und Vertrauen wurde zu einem Eisnebel. Ich fing ihn ein und sperrte die unzähligen winzigen Eiskügelchen des Nebels in mein Blut. Mein Herz wurde kalt. So erhoffte ich mir, weitere Enttäuschungen ersparen zu können.

Nun lag der Ozean vor mir wie ein Meer ungeweinter Tränen. Eine längst vergangene Sehnsucht erfüllte mich: Die Sehnsucht nach Heimat, einem zu Hause, nach mir selbst, nach Frieden.

Hier ist das Festland zu Ende. Hier ist ein Mensch am Ende: Ich, wenn ich ein Mensch bin.

Ich ging los.

Der gefallene GreifWo Geschichten leben. Entdecke jetzt