I. Ciner Et Pulvis

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Die Nacht erstreckte sich über mir wie ein schwarzes Tuch. Einzelne Sterne waren zu sehen, doch die meisten wurden von Wolken bedeckt. Es würde bald regnen. Ich zog ein Bein an und krallte mich mit den Zehen ins Gras. In wenigen Stunden war es soweit. Endlich würde ich ihr gegenüberstehen und mich für all das rächen können, was sie meiner Familie angetan hatte. Für Sara. Für Javier. Für Mum. Für Dad. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Sie würde bezahlen, so wie wir bezahlen mussten. Sie hatte mir alles genommen, was mir wichtig war, was mich am Leben gehalten hatte. Jetzt hatte ich nichts mehr zu verlieren.

Sara hatte sie erhängt, an ihrem Lieblingsbaum. Der, unter dem sie immer gesessen hatte, wenn sie ihre Hände mal wieder nicht von einem Buch lassen konnte. Ich werde diesen Anblick wohl nie vergessen können. Das Buch unter ihr, aufgeklappt auf Seite 97, weil sie am 9. Juli ermordet worden war. Ihre sonst so stechend blauen Augen leblos und kalt, das Lächeln, das sie stets auf den Lippen getragen hatte, erloschen. Der karminrote Strick, ihre Lieblingsfarbe. Festgemacht an dem Ast, an den wir uns als Kinder immer kopfüber hingehängt und uns darüber lustig gemacht hatten, dass die Welt falsch herum sei.

Ich lächelte, als ich ihr Kichern wieder hörte. So unbeschwert. Sara war stets fröhlich gewesen, ein weltoffener Mensch. Natürlich hatte auch sie hin und wieder schlechte Tage gehabt, aber es war so leicht gewesen, sie wieder aufzumuntern, dass es fast schon unmenschlich gewesen war. Genau wie Mum hatte sie immer nur das Gute in den Menschen gesehen, und genau wie Dad hatte sie Ungerechtigkeit nicht ertragen können.

Sie war unschuldig gewesen, hatte nichts mit dem Bandenkrieg zu tun gehabt. Sie war tot, nur weil sie meine Schwester und seine Tochter war. Ihr einziges Verbrechen war das Blut, dass durch ihre Adern floss. Das Blut eines Verräters. Wenn Dad sich damals rausgehalten hätte, würde sie noch leben. Wenn sie nicht geredet hätte, würden sie alle noch leben. Sie, Olivia, dieses Miststück. Hätte sie bloß ihre verdammte Klappe gehalten. Aber genauso wie Javier hatte sie nie aufgehört zu Brabbeln.

Für einen Siebzehnjährigen hatte er eindeutig viel geredet, kein Zweifel. Deswegen hatte sie ihm die Zunge heraus geschnitten und in dem Glas auf dem dunklen Nachttisch zur Schau gestellt. Am 10. Juli, dem Tag seines Schulabschlusses. Aber er hatte nie ein Wort gesagt, das ihn in Schwierigkeiten gebracht haben könnte. Das Olivia dazu gebracht haben könnte, Jagd auf ihn zu machen. Er selbst hatte im Bett gelegen, die grünen Augen vor Schreck weit aufgerissen, die Hände hinter dem Rücken zusammen gebunden. Ich konnte den Luftzug noch spüren, der durch das geöffnete Fenster geweht und die Vorhänge aufgeplustert hatte. Sie war durchs Fenster abgehauen. Ebenso wie Sara hatte auch Javier so einen Tod nicht verdient. Wenn das irgendjemand getan hätte, dann Dad, weil er Olivia verraten hatte. Aber alle anderen waren unschuldig gewesen.

Wenn Dad nicht gemeinsame Sache mit den Bloodhounds gemacht und die Zhenaii an sie verraten hätte, dann würden sie noch leben. Javier und Sara. Mein Retter und mein Engel. Javier hatte schon immer einen unglaublichen Beschützerinstinkt, hielt sämtliche Geschöpfe, die auch nur im Entferntesten Gefahr bedeuteten, von Sara und mir fern. Er hatte sich um uns gekümmert, wenn Mum und Dad mal wieder auf 'Geschäftsreise' waren. Was, wie ich mittlerweile wusste, nichts anderes bedeutet hatte als kleine Blitzkriege zwischen den Gangs auszufechten. Javier war mein Fels in der Brandung gewesen. Das erste, was mir einfiel, wenn ich das Wort ‚Familie' hörte.

Und dann waren da noch Mum und Dad. Man hatte ihre Leichen nicht gefunden. Zumindest nicht wirklich. Da ein herausgerissenes Auge, hier ein abgehackter Finger, dort ein Stück verbranntes Fleisch. Die Cops hatten die Überreste in einer alten Fabrik gefunden, direkt neben einem riesigen Fass Flusssäure. Kein einziger Hinweis auf die Täter, auf die Zhenaii. Aber ich wusste, dass sie es gewesen waren. Es war der 11. Juli gewesen, ihr Hochzeitstag.

Und heute, am 12. Juli, in genau 3796 Sekunden, war ich dran. Eine Stunde, drei Minuten, sechzehn Sekunden. Fünfzehn. Vierzehn. Dann würde ich sechzehn werden. Ich richtete mich auf und zog meine schwarzen Boots an, bevor ich aufstand und mir das Gras von den Schenkeln klopfte. Seufzend ließ ich meine Schultern kreisen, kontrollierte die Wurfmesser an meinem Gürtel, das Magazin meiner Waffe. Mich würde sie nicht so leicht kriegen. Und wenn, dann würde ich diese Schlampe Olivia mit in den Tod nehmen. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, als ich spürte, wie der Hass und die Wut in mir aufstiegen. Sie würde heute sterben. Um jeden Preis. Entschlossen setzte ich mich in Gang, verließ den Garten unseres... Meines Anwesens, und erklomm die Stufen der Veranda. Ohne das Haus, in dem ich aufgewachsen war, eines Blickes zu würdigen, durchquerte ich zielstrebig den Flur. Erst als ich das riesige Metalltor hinter mir schloss, der die Einfahrt von der Landstraße trennte, blickte ich zurück.

Das Anwesen war alt, die Außenwände aus Backstein von Efeu überwachsen, doch die Fenster blitzsauber. Das Dach, erst letzten Sommer neu gedeckt, so schwarz wie der Himmel darüber, lediglich der rote Stein des Kamins stach heraus. Von beiden Seiten wurde meine Heimat von Bäumen eingerahmt, da sie mitten im Wald lag. Kurz ließ ich meinen Blick noch einmal darüber wandern, bevor ich ohne zu Zögern auf den Knopf der Zeitschaltuhr drückte. 120 Sekunden noch. Ich schmiss das kleine Gerät über den Zaun und stieg in den Lamborghini, den ich vor dem Tor geparkt hatte. Gerade als ich auf die Landstraße bog, sah ich im Rückspiegel, wie mein Zuhause in die Luft flog. Eine plötzliche Welle aus Glücksgefühlen ließ mich grinsen, bevor ich das Gaspedal durchtrat. Noch 3102 Sekunden.

Die Zeit rann wie Sand aus meinen Händen, und schließlich stand ich auf dem Dach der Firma meines Vaters, über den Lichtern der Stadt. Noch 657 Sekunden.

Eines Tages wirst du meinem Platz einnehmen."

Ich wusste noch, wie er mich angesehen hatte. Voller Stolz. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht.

„Tja, Vater, tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss.", murmelte ich, „Das wird nie geschehen."

Und so stand ich da, die bandagierten Hände in den Waffengurt an meiner Hüfte eingehakt, und betrachtete die Stadt unter mir.

Noch 17 Sekunden.

Woher sie wissen würde, wo ich war, das war mir vollkommen egal. Hauptsache, Olivia würde sterben. Mit herausgerissenem Herzen, da sie nie eins hatte und es somit offensichtlich nicht brauchen würde.

Noch fünf Sekunden.

Für Sara.

Noch vier Sekunden.

Für Javier.

Noch drei Sekunden.

Für Mum.

Noch zwei Sekunden.

Für Dad.

Noch eine Sekunde.

Der Wecker meiner Armbanduhr piepte, als ihre Stimme durch die Nacht schnitt.

„Hallo Nathan."

„Hallo Olivia."

NathanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt