Short Stories

Nur ein weiterer Tag

"Es ist nur ein weiter Tag, den du überstehen musst. Es ist nichts neues, dasselbe wie gestern, dasselbe wie vorgestern.", sage ich mir beim Aufstehen. „Nur ein weiterer Tag, nichts besonderes, nur heute noch.", sagt mir die Stimme in meinem Kopf, während ich auf der Waage stehe. 460 Gramm weniger, macht fast 2,5 Kilo in den letzten Tagen, nur noch ein weiterer, dann bin ich am Ziel. Freude kommt in mir auf, doch richtig genießen kann ich sie nicht. Erneut ein Ziel erreichen, ein gutes Gefühl, doch es wird verdrängt. Die Leere, sie frisst mich auf.
"Nur noch heute, ein Tag noch.", sage ich mir, als ich an der Küche vorbeihaste, um auf keine falsche Idee zu kommen. Alles wie immer.
Ich sitze in der Schule, ich lasse mein Gummiband an meinen Arm schnalzen. Der Lehrer starrt mich an, doch er wird es nie verstehen, den Schmerz, ich brauche ihn um fokussiert zu bleiben.
Mein Magen knurrt, vergeblich. Nur noch heute und dann werde ich ihm geben, was er will, nur noch ein weiterer Tag.
Ich stehe auf, ich muss aufpassen nicht zu schnell aufzustehen. Mir ist schwindelig, meine Sicht verschwimmt. Ich genehmige mir ein Stück Traubenzucker, 83 kcal doch ich muss bei Bewusstsein bleiben. Nur noch dieser Tag.
Ich leg mich ins Bett, ich habe schon wieder nichts geschafft. Ich fühle mich schlapp, kann mich nicht konzentrieren. Liegen tut weh, Sitzen tut weh, es schmerzt, Knochen trifft auf Fläche, doch was soll's, es ist das Leben was schmerzt.
Ich stehe auf, langsam und vorsichtig, ich schaue in den Spiegel. Vorsichtig betrachte ich mich im Spiegel, kneife in eine Fettfalte. Die Waage zeigt mir 51,2 kg, viel zu viel für meine 1.75. Ich setze mich draußen, zünde mir eine Kippe an. Rauchen lindert den Hunger. Engel haben keinen Hunger. "Du wolltest unter die 50 kg, stell dir dochmal diese Zahl vor" flüstert die Stimme in meinem Kopf.
Sie hat Recht, das ist mein eigentliches Ziel. "Ein Tag noch, nur noch ein weiterer", sag ich mir während ich mich ins Bett lege. Nur noch ein weiterer Tag.