Meine Schneewelt

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Hallo,

Diese Kurzgeschichte hab ich vor ungefähr einem Jahr geschrieben als Beitrag zu einem Schreibwettbewerb zum Thema "Fantasieräume". Mir gefällt dieses Bild von "verlorener Zeit" oder "Zeit ist Geld" nicht, natürlich ist die Zeit die man hat wertvoll und man kann sie nur einmal benutzen, nie wieder zurück drehen und so weiter. Trotzdem, wer definiert eigentlich, wann ich meine Zeit "sinnvoll" genutzt und wann ich sie "verschwendet" habe? Welcher meiner Mitmenschen hat die Weitsicht das zu beurteilen? Und die Fantasie zu entwickeln bedeutet nicht unbedingt Zeit zu verschwenden. Lasst euch nicht stressen oder fertig machen, egal von wem, sondern nutzt die Zeit, die ihr habt nach euren Möglichkeiten.

Ich freue mich über Kommentare und Kritik, bleibt aber bitte konstruktiv. Dann kommt noch die obligatorische Bitte nichts abzuschreiben, zu kopieren, ect...

So, jetzt aber genug von mir vorneweg, hier kommt die eigentliche Geschichte:


Ich soll schreiben über Fantasieräume, was für eine Ironie, wo doch so wenig Platz gelassen wird, sie zu erkunden. Die innere Uhr musste ich immer schneller takten, um mithalten zu können, in der Gegenwart zu bleiben. Ich wollte nicht zurückgelassen werden, dabei sein, einfach nur Leben.

Immer schneller, immer höher, immer größer, immer besser: Perfekt ist gerade gut genug – bis ich stolperte und zurückgelassen wurde, weil ich nicht mehr mithalten konnte. Alles war kaputt, was blieb, waren Scherben der Erinnerung. Erst leuchteten sie hell, schimmerten und glitzerten in Gedenken an das was ich hatte, jetzt ist ihr Glanz erloschen. Sie sind nur noch eine bittersüße Erinnerung an das Leben, wie ich es mal hatte. Doch während ich jetzt gehe, denn ich kann nicht mehr rennen, halte diesen Takt nicht länger durch, hab ich wieder Zeit.

Zeit zu Atmen.

Zu Lachen.

Zu Leben.

Zu Denken.

Zu Fühlen.

Sogar zu Träumen.

Denn wenn mich der alte Takt einholt, mich wieder mitreißen will bis ich falle, dann bleibe ich ganz stehen. Ich halte inne, atme tief ein und aus und entfliehe in meine Fantasie.

An einem anderen Ort können meine verstopften Sinne wieder wahrnehmen.

Ich öffne die Augen und sehe Schnee. Alles ist weiß bedeckt, die kahlen Bäume, die abgeernteten Felder, der zugefrorene Bach, der Weg auf dem ich gehe. Der Himmel leuchtet in klarem, kalten blau und die strahlend gelbe Sonne taucht die ganze Welt in ein warmes Funkeln.

Ich drehe mich um und betrachte meine Fußspuren in der glitzernden Schneedecke. Ich fange an, meine Träume wieder zu sehen.

Der Schnee knirscht unter meinen Füßen, ein leises Rauschen, als der Zug in weiter Ferne vorbeifährt, mein regelmäßiger Atem, der zu kleinen Dampfwölkchen wird. Sonst ist es so still, dass selbst der Wind nicht übertönt wird, Schnee dämpft die Geräusche. Ich fange an, meine Gedanken wieder zu hören.

Die Luft ist klar und frisch, ein bisschen würzig, ich atme nochmal tief ein, so riecht es in keiner Stadt, nirgendwo, außer hier. Es riecht nach Freiheit, endlich.

Ich atme tief durch, wieder und wieder, bis sich der frische, würzige Geschmack auf meiner Zunge ausbreitet, genieße es, alles andere mehr und mehr zurück zu lassen. Es liegt wieder Hoffnung in der Luft.

Die Luft auf meinem Gesicht ist klirrend kalt, aber angenehm, obwohl ich zittere. Ich denke, das kommt weniger von der äußeren, als von der inneren Kälte. Der Boden unter meinen Füßen gibt immer ein paar Zentimeter nach und ist dann stabil, wenn die Eisschicht erreicht ist. Ich fange an mich zu entspannen, der Druck fällt ab und Wärme durchflutet mich. Ich bin zu Hause.

Meine Schneewelt ist mein liebster Fantasieraum, es gibt unendlich viele, aber diesen habe ich selbst geschaffen, ich habe ihn selbst erlebt. Das ist lange her, aus der Zeit, als ich noch Denken, Fühlen und Träumen durfte, aber die Erinnerung bleibt frisch, weil ich oft hier bin, viel Zeit hier verbringe.

Jetzt könnte man denken, hier würde es bald langweilig werden, aber das stimmt nicht. Hier ist einfach alles etwas entschleunigt und viel intensiver, ohne Grenzen. Denn die gibt es in meiner Fantasie nicht, ich kann sie bis ins Unendliche steigern. Hier ist mir die Realität nicht im Weg. Ich schaue mich um. Etwas fehlt. Dann merke ich es und lasse mich rückwärts in den Schnee fallen. Ich bewege die Arme und Beine zur Seite und wieder zurück. Immer wieder. Dann stehe ich auf – vorsichtig, denn ich will meinen Schneeengel nicht zerstören. Mit einem Lächeln im Gesicht gehe ich weiter. Hier darf ich wieder Kind sein, nein, hier darf ich wieder sein, so wie es in der Realität nur Kinder dürfen.

In der Fantasie kann ich leben, in der Realität funktioniere ich nur noch.

Wie gerne ich doch immer hier bleiben würde, diese Welt erforschen, mir eine Hütte bauen, Schneeengel malen, durch die Wolken fliegen.

Die Möglichkeiten, die meine Fantasie mir bietet sind grenzenlos, nur hier fühle ich mich ganz leicht, kann es mir leisten aufmerksam zu sein, alles wahrzunehmen ohne daran kaputt zu gehen.

Doch ich muss zurückkehren in die Realität, muss mich der tickenden Uhr und dem ewigen Wettlauf wieder stellen. In meiner Fantasie mache ich den Plan, stelle ich die Weichen; in der Realität kann ich nur versuchen auszuweichen wenn ein Zug kommt, den Fahrplan kenne ich auch nicht.

Und trotzdem, ich muss zurückgehen, denn so verlockend die Fantasieräume auch sind, man verliert sich leicht darin. Und ich wollte nicht weglaufen, als ich hier herkam, ich wollte eine Pause. Ein bisschen Kraft tanken und dann wieder zurück und mich aufs Neue der Uhr zu stellen.

Ich hole noch einmal tief Luft und schließe die Augen, dann kneife ich mich in den Arm.

In meiner Fantasie gibt es keinen Schmerz, in meiner Realität schon, so verdrängt sie meinen Fantasieraum sofort.

Ich öffne meine Augen wieder und sofort stürmt eine Flut an Reizen auf mich zu, meine Wahrnehmung stumpft wieder ab, aber nicht ganz, ich rufe mir das Bild des Schneeengels ins Gedächtnis und kann immer noch fühlen. Die Gefühle stürmen auf mich ein, aber ich will mich nicht schon wieder verschließen. Noch nicht.

Das Ticken der Uhr dröhnt in meinen Ohren, Leute überholen mich, immer mehr. Aber auf einmal kommt es mir ganz unnatürlich vor. Ich dachte immer, stehen bleiben wäre schwach.

Doch vielleicht zeigt sich gerade darin wahre Stärke.

Im Stehenbleiben.

Sich Umdrehen.

Lachen.

Leben.

Denken.

Fühlen.

Träumen.

Vielleicht kann ich auch hier in der Realität ein zu Hause finden.

Aber eines ist sicher: Ich werde es nicht finden, wenn ich mit abgestumpften Sinnen im Takt einer rasenden Uhr anderen hinterherrenne, ohne Ziel, ohne Sinn, ohne Ruhe, getrieben vom Stress, als Gefangene der Zeit.

Und wenn mich die Zeit wieder mitreißen will, der Druck zu stark wird und ich nicht mehr standhalten kann, bleibt mir immer noch die Flucht in die Fantasie. Nach Hause.

Meine SchneeweltWhere stories live. Discover now