Königin der See

2 0 0
                                    

Am Rande des Raums stehen wir voreinander, ich schaue hinab zu dir. Wenige Mädchen reichen so nahe an mich heran wie du. Dein Haar ist ungewohnt kunstvoll drapiert. Anstatt der hastig hingekämmten Ordnung, die du sonst trägst, ist es heute zweigeteilt - die eine Hälfte wird von einer Klammer von der Stirn aufwärts in den Nacken geführt, wie ein goldener Kopfschmuck. Die andere Hälfte fällt hinter deinen Ohren knapp bis zur Schulter hinab und gibt dir ein aristokratisches Aussehen.

Ich verneige mich leicht von dir, mit einem kleinen Schmunzeln. Bei deinem angedeutetem Knicks, den du von mir aus hättest gern noch tiefer ausführen dürfen, erwiderst du dieses Schmunzeln, auch wenn du kurz zuvor besorgt geblickt hattest. Du fürchtest stets, ich würde bei der Verbeugung mit meinem Kopf auf deinen schlagen, da mein Oberkörper so lang ist.

Für einen kurzen Moment hänge ich noch jener Zeit hinterher, als uns dieses unsinnige Ritual eingetrichtert wurde. Es war erst vor kurzem und doch hat sich so vieles geändert. Es war eine gute Zeit. Die beste bisher.

Die ersten tanzbaren Takte tönen an, die ersten Paare bewegen sich. Es wird Zeit. Wir treten jeweils einen Viertelschritt näher aufeinander zu. Routiniert greife ich mit der rechten Hand an deinen Rücken. Zur Orientierung suche ich den Verschluss deines BHs. Du machst dir nicht viel Mühe, seine Träger unter deinem Kleid zu verstecken, zumal sie häufig rutschen, und so weiß ich, dass er wenig kunstvoll und schwarz ist - zweckmäßig für die Zwecke, für die du ihn einsetzt. Meine Fingerspitzen legen sich sanft auf die Verdickung, wo sich die Hafteln befinden, zeitgleich umfasse ich mit der linken deine rechte Hand. Deine linke Hand hat den weiten Weg bis zu meinem rechten Bizeps gefunden. Während ich mich in den Takt einfühle, halte ich diesen Moment kurz fest. Deine kleinen, etwas stummeligen Finger in meiner Hand - wahrscheinlich der größte deiner wenigen Schönheitsmakel. Schlimmer ist eher, wie wenig zärtlich du sie einsetzt. Wenn deine Hand nur so sanft auf mir ruhen würde wie sie es scheint... und nicht einfach nur dort liegt, weil dies nun einmal die Haltung ist.

Zur Eröffnung gibt es selbstverständlich einen Wiener Walzer. Meine ersten Schritte führen zu keiner schönen Bewegung, ich habe bereits zu lange nicht mehr getanzt, um mich sofort in mein Schrittmuster wiedereinzufinden. Ich stoppe kurz und setze mich deinem tadelnden Blick aus: ein geneigter Kopf, hochgezogene Brauen, dafür leicht nach unten gezogene Mundwinkel. Du verzeihst keine Fehler, du erwartest, dass man gut ist. Du bist es schließlich auch.

Noch ehe du lange mit einem genervten „Was tust du?'' anmerken kannst, um dann zu erläutern, wie es richtig ginge, steige ich wieder ein, mache ein paar halbgare Schritte und tanze dann ganz passablen Wiener Walzer. Rasch drehen wir uns um eine nicht raumfeste Achse. Es gibt kein Lob von dir, es ist ja selbstverständlich, dass ich mich wieder erinnert habe. Es hat lange genug gedauert.

Erst jetzt fällt mir auf, wie voll die Tanzfläche ist. Da fast jedes Paar zu Beginn noch tanzfreudig ist und ebenso viele diesen Tanz beherrschen, wird die Menschendichte nun maximal. Wir drehen uns im Takt weiter, versuchen dabei in eine freiere Ecke zu kommen. Wie in einem Kettenkarussell geht es auf und ab, vom festen Stand zu den Zehenspitzen und zurück. Rollend spüre ich unsere gemeinsame Masse im Raum rotieren, wie ein Schiff, das schräg zum Wellengang durch den Sturm steuert. Ganz professionell schaust du nach links und öffnest mir den Blick zu deinem nicht zerbrechlich erscheinenden, aber dennoch anziehenden Hals. Doch Zeit dorthin zu blicken bleibt mir nicht. Während sich alles um mich dreht, die Farben schnell wechseln oder gar blinken und ich auf die Musik hören muss, um im Takt zu bleiben, ist es auch noch nötig, jede Kollision zu vermeiden. Noch ehe wir in der relativ sicheren Mitte der Tanzfläche angelangt sind, geschieht es bereits: als ich kurz strauchel und wegschaue, da mich ein Absatz einer anderen Dame an der Ferse traf, kam ich nicht zum Ausweichen und ein anderes Paar tanzt mit voller Kraft und den Händen voraus in unsere Seite. Ich bin froh, das meiste abbekommen zu haben - ich sage mir, dass dies daran liegt, dass ich führe. Irgendjemand von uns Vieren hat sich vielleicht entschuldigt, es ist mir egal, ich will weitertanzen, und so beginnen wir erneut. Doch es gestaltet sich als sehr schwierig - da wir uns kurz nicht bewegt haben, wurde um uns als stehendes Objekt kaum Abstand gehalten, sodass bereits bei der ersten Drehung ein Stoß in den Rücken den Tanz stoppt. Die kurze Unterbrechung unserer Bewegung hat ein anderes Paar nicht erwartet und tanzt in uns hinein. Es schienen sich noch mehr Menschen zu verkeilen. Ich ziehe dich heraus in die Mitte der Tanzfläche, das Auge des Sturms, und rufe dir zu: ''Das ist hier ja wie ein Seegefecht!'', was du mit einem zurückhaltenden, zustimmenden Brummen kommentierst. Es erinnert mich tatsächlich daran, rammen wir doch selbst hier in der Mitte immer wieder aneinander, massive Körper auf dem Meer der Tanzfläche, getrieben vom Wind der Musik, buhlend um Dominanz im Raum, um Macht zur Bewegung, bewaffnet mit Ellenbogen.

StahlbadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt