Immer nur sie

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Zu den Dingen, die Theo nicht mochte, gehörte definitiv bemerkt zu werden. Und sie bemerkte ihn scheinbar immer mehr. Sieben Jahre lang hatte sie ihn nie länger als flüchtig angesehen und nun hingen ihre Blicke intensiver auf ihm. Sie winkte ihm beim Mittagessen zu, lächelte ihn an, wenn sie sich in den Korridoren begegneten und er fühlte ihre Blicke im Unterricht auf sich. Das alles verunsicherte ihn zutiefst.

Es störte ihn nicht, nie gesehen zu werden. Er fühlte sich wohl so. Menschenmassen und Aufmerksamkeit mochte er nicht, das hatte er noch nie. Er war schon immer ein stiller Junge gewesen. Seit Vater hatte immer mehr von ihm erwartet und war zwischendurch auch handgreiflich geworden und Theo hat sich immer mehr zurückgezogen. Jetzt wo sie ihn immer mehr bemerkte, sorgte er, dass er ihrem Blick nicht entfliehen konnte. Er fürchtete, dass durch seine Maske sehen konnte und seine Befürchtungen wurden bewahrheitet.

Die Sonne brannte von Himmel hinab und wärmte die Erde unter ihnen. Sie hatte ihren dünnen Pullover um die Hüfte gebunden und die Ärmel ihres Hemdes zu den Ellenbogen hochgerollt. Ihr Haar stand ihr vom Kopf ab und wurde von einem Farbstift in einem Knoten festgehalten. Der Aufsatz an dem sie arbeiteten lag auf ihren Knien, die Bücher lagen aufgeschlagen um sie herum auf dem Boden. Theo beobachtete wie sie die Stirn runzelte und an ihrem Stift kaute. Ihre Augen huschten über die Zeilen, ehe sie stöhnte und seinem Blick begegnete. Theo schaute ertappt auf seine eigenen Notizen, doch schon bald sah er wieder auf. Sie starrte ihn immer noch an und musterte sein Gesicht. Als sie ihm in die Augen sah, lächelte sie freundlich.

Immer wieder ertappte sich Theo dabei, wie er sie beobachtete. Und immer wenn er es bemerkte, versuchte er seinen Blick wieder von ihr loszureissen und seinen eigenen Dingen nachzugehen. Trotzdem gelang ihm das nie.

Ein altes Buch wurde neben ihm auf den Tisch gelegt. Mit versteckter Verwunderung sah Theo von seinem eigenen Buch auf und blickte in zwei leuchtende Augen. Sie lächelte auf ihn hinab. "Madam Prapton sagte, du suchst dieses Buch. Ich habe es gelesen, es ist wirklich interessant." Ihre Stimme war fröhlich und sanft und um ihre Lippen lag ein breites Lächeln. Theo fehlten die Worte. Er wollte ihr danken, sich mit ihr unterhalten, aber er brachte keinen Ton heraus. Da riefen schon ihre Freunde nach ihr und mit einem letzten breiten Lächeln, drehte sie sich um und verschwand. "Danke", murmelte Theo, ohne dass sie es hörte.

Sie sass alleine am Frühstückstisch. Trotz dass sie einige Meter von ihm entfernt sass, erkannte Theo dass ihre Augen gerötet waren. Scheinbar hatte sie wieder Probleme mit ihrem Freund. Sie wirkte unglücklich und müde. Es bereitete Theo ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

"Würdest du mir bitte das Buch hier reichen?", fragte sie mit sanfter Stimme und deutete auf ein Band ausserhalb ihrer Reichweite. Der September war warm, beinahe schon heiss. Die Schüler sassen draussen auf dem Gelände, redeten und lernten für die anstehenden Prüfungen. Sie hatte sich einfach neben ihn gesetzt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und Theo hatte geschwiegen. Verstohlen warf er ihr einen Blick aus dem Augenwinkel zu. Sie knabberte erneut an ihren Schreibstift und starrte auf ihre Notizen in ihrem Schoss. Dann warf sie ihm einen fragenden Blick zu. Richtig, das Buch. Etwas beschämt griff er danach und hielt es in ihre Richtung. Als er ihr das Buch überreichte, streiften sich ihre Knie. Theo wollte schon wieder zurück rutschen, als er merkte, dass es ihr scheinbar nichts ausmachte. Und so sassen sie still beieinander, während sich ihre Knie noch immer berührten.

Sie weinte. Eigentlich hatte er es nur zufällig bemerkt. Beinahe wäre er an ihr vorbeigegangen, doch ihr Schluchzen liess ihn erstarren. Sie sass auf dem Dach, vermutlich war sie durch eines der Fenster gestiegen. Die Sonne begann zu sinken, die meisten Schüler waren bereits in ihren Zimmern, doch sie sass hier, alleine auf dem Dach und weinte. Unschlüssig verlagerte Theo sein Gewicht von einem Fuss auf den anderen. Als kleiner Junge hatte er nie Trost gefunden, wenn er geweint hatte. Nicht seit seine Mutter gestorben war und sein Vater dem Alkohol verfiel. Also warum sollte es ihr genau wie ihm ergehen? Wortlos kletterte Theo aus dem Fenster. Ihr dünner, blasser Körper sass zusammengesackt auf den schmutzigen Dachziegeln und bebte bei jedem Schluchzen. Stumm setzte er sich neben sie. Als er zögerlich und mit flatterndem Magen einen Arm um sie legte, schluchzte sie auf und weinte heftiger.

Immer nur sieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt