Déjà-vu

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Liebe Celya,

zum einen muss ich dich berichtigen: Mein Name ist nicht "O'Sallivan", sondern "O'Salivan". Mit einem "L". Zum anderen frage ich mich, woher du mich kennst und warum du mich auf englisch anschreibst. Wer bist du? Ich habe einen Brief bekommen, der eindeutig von dir war. Das Englisch ist übrigens ganz grauenvoll. Und wieso soll ich euch besuchen? Besteht Notwendigkeit? Könnte ich euch in einer Krise weiterhelfen? Besitze ich irgendwelche magischen Kräfte, von denen ich nichts weiß? 

Liebe Grüße,

Evie

Ich schließe die Augen und lasse den Brief sinken, um darüber nachzudenken. Ich habe tatsächlich eine wildfremde angeschrieben, von der ich bis jetzt dachte, sie würde nicht existieren. Das war wohl ein Irrtum. Und dann schreibt sie mir auch noch zurück. Ich würde am liebsten nicht antworten, aber dann würde sie mich sicher immer weiter nerven. Mit zitternder Hand greife ich nach einem Stift und einem Bogen Papier. Und beginne zu schreiben. Ich muss zehn mal neu ansetzen, bis ich mich für eine passende Anrede entschieden habe. Liebe Evie klingt unpassend. Liebe Eveline auch. 

Hi Eveline,

Evie, ist das dein Spitzname? Ich muss mich erst einmal entschuldigen, dass du einfach so diesen Brief von mir bekommen hast. Ich hätte nicht erwartet, dass der Brief mal bei jemandem ankommt. Ich habe dich nämlich ehrlich gesagt erfunden, und jetzt gibt es dich wirklich... Das muss ich erstmal verdauen. Du fragst dich jetzt sicher, wie ich denn überhaupt auf diese Idee gekommen bin. Vor zwei Wochen erreichte mich ein Brief, den ich meinen Eltern nicht unbedingt zeigen wollte, aber sie haben mich gefragt, was denn der Postbote wollte, also habe ich gesagt, er habe mir einen Brief von meiner Brieffreundin Eveline O'Sallivan aus England überreicht. Auf die Schnelle viel mir nichts ein. Ich habe in Wirklichkeit keine Brieffreundin, du warst also wirklich nur eine Notlüge. Ich hatte nicht vor, dir zu schreiben, doch dann hatte mein Vater die glänzende Idee, dich zu uns nach Hause einzuladen und meinen nächsten Brief an dich gleich mitzunehmen. Er wollte mir den Brief diktieren, was er auch getan hat, leider hatte ich keine Wahl. (Bedank dich für das Englisch also bei ihm!!) Bist du also nicht aus England? Dein Name jedenfalls hört sich ziemlich englisch an. 

Liebe Grüße,

Cly

Als ich den Brief in den Briefkasten bei der Post werfe, bin ich seltsamerweise ziemlich aufgeregt. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad und fahre los, eigentlich wäre es einfacher gewesen, den Brief einfach morgen nach der Schule mitzunehmen, aber das würde mir zu lange dauern. So muss ich eben 20 Minuten Fahrrad fahren. Gerade in diesem Moment habe ich keine Lust auf die Fahrerei. Ich blinzele, aber nachdem ich die Augen aufschlage, bin ich plötzlich bei uns im Hof und fahre geradewegs auf unser Auto zu. In voller Geschwindigkeit. Ich schreie und reiße das Lenkrad herum, aber das Fahrrad kracht schon ins Auto, es kippt um und ich komme hart auf dem Boden auf, dort bleibe ich einige Sekunden von meinem Fahrrad begraben liegen. Meine Knien pochen und meine Lippe ist dick, wahrscheinlich zieren einige Schrammen meinen Arm, aber das macht mir gerade überhaupt keine Sorgen. Vielmehr ist es das, was gerade passiert ist. Wenn es passiert ist. Ich liege immer noch und mache mir gar keine Mühe, aufzustehen. Meine Augen sind aufgerissen vor Schreck, mein ganzer Körper ist angespannt und ich höre Stimmen, dann den Schrei meiner Mutter. "Celya!", sie eilt auf ihren Stöckelschuhen zu mir und schnell setze ich mich auf und ziehe ein entschuldigendes Gesicht. "Tut mir leid", murmele ich, stehe auf und klopfe mir den Dreck von der Hose. "Was tut dir leid? Ist alles in Ordnung?" Ich deute mit dem Kopf zu der riesigen Delle im Auto. Ihre Augen weiten sich und sie scheint sich überwinden zu müssen mit dem nächsten Satz. "Ach Schätzchen, das macht doch nichts. Hauptsache dir geht's gut" Ich nicke und verschwinde im Haus, ohne meiner Mutter oder meinem verdellten Fahrrad noch einen letzten Blick zu schenken. Ich hoffe, dass es spät genug ist, um, ohne es verdächtig wirken zu lassen, ins Bett zu verschwinden. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die viereckige Wanduhr im Flur, die kurz vor sechs zeigt, und biege rechts ab in mein Zimmer. Ich brauche keine zehn Sekunden, bis ich eingeschlafen bin.

Im Bann der HEXEN #OrionAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt