Racheakt

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Ich atme langsam ein, lasse die Luft einige Sekunden in meiner Lunge, hauche sie wieder aus. Ich entspanne meinen Rücke, strecke meine Beine, entkrampfe meine Hände. Meine Augen hören auf zu brennen, die Tränen werden weniger, mein Kopf hört langsam auf zu pochen. Ich öffne langsam meine Augen, tauche in die reale Welt ein, tausche einen Alptraum gegen den anderen. Meine Augen suchen nach den leuchtenden Ziffern meiner digitalen Uhr. Ich brauche einige Minuten, bis ich merke, dass sie stehen geblieben ist. Genau um 12. das müsste kurz bevor ich eingeschlafen bin geschehen sein. Wie viel Uhr es jetzt wohl ist?

Ich lege mich schwerfällig auf den Rücken, winkel meine Beine an, presse meine Arme auf meinen Bauch. Ich warte vergebens auf die leichten Bewegungen in meinem Bauch, die Tritte, irgendwas. Meine Augen fixieren die Tür an der gegenüberliegenden Wand. Sie steht einen Spalt offen, doch nicht das stört mich, es ist der dunkle Schatten, der den Hellen Lichtstrahl auf dem Boden unterbricht. Mit nahezu 100% Sicherheit ist er es. Wer soll es sonst sein? Ich setze mich kerzengrade auf, rutsche zurück, bis die Rückenlehne meines Bettes Abdrücke in meiner Haut verursacht. Ich umschlinge mit meinen Armen meine Beine, presse sie gegen meinen Körper, bis mein Bauch anfängt zu schmerzen. Ich stelle mir die Leiche meines Kindes vor. Eine Gänsehaut jagt über meinen Rücken. Ich starre wieder auf den Schatten. Zuerst denke ich, ich bilde es mir nur ein, aber er summt. Ein altes Kinderlied, das meine Mutter mir immer vorgesungen hat, wenn ich nicht einschlafen konnte oder einen Alptraum hatte.

Alles kocht in mir auf. Er stoppt die Melodie, sagt leise:,,Gute Nacht, Baby, schlaf gut!" Der Hass, die Verachtung in seiner Stimme treiben die Tränen zurück in meine Augen. Der Schatten verschwindet leise. Er hat mein Baby getötet, er hat mein Baby getötet, er hat... Ich lege meinen Kopf auf meine Hände und unterdrücke einen Schluchzer. Ich zwinge mich dazu, mich zu beruhigen, meinen Kopf zu heben, die Tränen wegzuwischen und zu atmen. Atmen. Ic schwinge meine Beine aus dem Bett, ziehe mich hoch, Zweifel für einen Moment daran, ob meine Beine mein Gewicht überhaupt tragen können, doch zwei Schritte spöter fühle ich mich einigermaßen sicher und schreite zur Tür. Meine knochigen Finger umklammern die Türklinke, ziehen sie vorsichtig und leise auf und zwänge mich raus in das grelle Licht. Langsam schleiche ich zur Treppe. Ich stoppe vor der ersten Stufe. Die Treppe knarzt, die erste Stufe, die vorletzte ist sogar locker. Ich drehe mich, lehne meinen Rücken gegen das Geländer und atme durch. Ich stemme meine Hände auf das Geländer und drücke mich hoch. Langsam lasse ich mich runter rutschen. Leise und sauber. Ohne das mich jemand hört. Unten angekommen lasse ich mich sanft auf den Boden gleiten. Ich schaue die Tür an, der Weg raus, Freiheit, Flucht. Alles, was ich will und jemals wollte. Es ist der Schlüssel, der Weg, ich könnte alles vergessen, alles. Wie die schlimmen Stunden, Tage in der Kammer, links. Hunger, Durst, Kälte, Einsamkeit. All das könnte ich hinter mir lassen. Mein Kopf dreht sich nach rechts, die Küche mit der Tür zum Wohnzimmer. Bis hier höre ich den lauten Fernseher, die Stimme meines Vaters. Sie lacht, schreit, ärgert sich über die armen Säue, denen es noch schlechter geht als ihm. Ich laufe automatisch in die Küche. Auf dem Tisch thront eine Waffe. Keine große, eine kleine Baretta, so einfach, dass selbst ich sie verstehen und verwenden kann. Ich gehe zu dem Tisch. Ich strecke meinen Arm aus und greife sie mit den Fingerspitzen, ziehe sie zu mir. Ich brauche einige Sekunden um die zu untersuchen. Ich fahre über die Sicherung, löse sie mit einem knacken, erschrecke. Doch der Lärm des Fernseher überdeckt das Knacken. Ich betrachte die Waffe. Wie viele Patronen benötigt es, einen erwachsenen Mann umzubringen, wie viele Patronen sind da überhaupt drin? Ich glaube, Dad erwähnte, es wären 8. Ist das Magazin noch komplett? Eigentlich benutzt er sie nie, warum liegt sie überhaupt da? Ich bin mir sicher, es ist noch komplett. 8 Kugeln.

Nur wie wende ich sie an?

Ich gehe in den Türrahmen. Nah genug um gut zu zielen, weit genug um nicht direkt von ihm ausser Gefecht gesetzt zu werden. Zielen, gutes stichwort.

Ich drehe mich um, ziele auf ein Glas. 3 Sekunden. Plus 2, wenn er sich bewegt. 5 Sekunden. Sagen wir, 5 Sekunden.

Die erste Kugel wird ein Warnschuss. Er wird mir nicht glauben, dass ich ihn erschießen will. So kann ich ihn auf Distanz halten, ein Gefühl für die Waffe entwickeln, Zeit gewinnen.

Die zweite Kugel? Die ist meinem Baby gewitmet. Direkt in seinen Bauch, da, wo einst mein Baby war. Er wird dafür büßen, er wird dafür büßen, er wird büßen. Doch der Schuss wird ihn vermutlich nichtmal davon abhalten, zu mir zu laufen. 5 Sekunden. So viel Zeit wird mir nicht bleiben, einen zweiten Schuss zu erzielen. Ich muss rückwärts gehen, nur ein paar Meter, damit ich Zeit habe, gut zu zielen.

Ich will den nächsten Schuss in seiner Brust versenken. Ich mach mir nichts vor, sein Herz werde ich nicht treffen, aber seine Lunge genügt, um ihn zusammenbrechen zu lassen. Dann hab ich alle Zeit der Welt, ihn stilvoll umzulegen. Nur wie? Ich denke nach. Mein Leben lang hat er mir eingeredet, ich wäre schlecht. Klar, die Körperliche Züchtigung war hart, doch was er in meinem Kopf getan hat war schlimmer als alles andere. Kopf.

Die vierte Kugel geht in seinen Kopf, ganz klar. Dann ist er Tod, ganz klar.

Mir fällt plötzlich jemand ein. Mum. Ich schaue die Waffe an. Meine Schultern schmerzen. Er hat ihre Flügel gebrochen und sie daran gehindert, nach Hause zu fliegen. Und das immer noch. Zwei weitere Kugeln, für die Flügel.

Ich drehe mich um. Zwei Kugeln... zwei Kugeln...

Ich gehe dann zur Tür, die Tür zur Kammer und öffne sie. Ich hebe meine Waffe. Meine Mum wird mich anschauen, hoffnungsvoll und erleichtert. Sie wird lächeln. Ich werde zielen, auf ihren Kopf, so gut ich kann um ihr den Aufstieg nach Hause so leicht wie möglich zu machen. Ich werde zu ihr gehen, ihre Fesseln losbinden, soweit ich kann, dann werde ich es tun.

Und dann hab ich noch eine Kugel. Eine letzte Kugel...

Angenommen, ich werde sie nicht benutzen. Dann kommt die Polizei. Sieht im Wohnzimmer einen Mann mit einem Einschuss im Bauch, in der Lunge, im Kopf, in jedem Schulterblatt. Außerdem eine Frau, halb gefesselt an eine Heizung, rappelmager, mit einem lächeln im Gesicht, zufrieden über ihren Tod. Und dann mich, mit der Tatwaffe in der Hand, stillschweigend, mit einer Kugel, einer verdammten Kugel.

Sie werden mich festnehmen, in den Knast stecken. Mein Leben würde keinen Sinn mehr haben. Erst im Knast, mit 40, 50 raus kommen, kein Job, keine Familie, keine Freunde, rein garnichts. Und dann? Dann bin ich alleine.

Doch, wenn ich die Kugel verwende um zu Mum zu kommen, zu meinem Baby...

Wenn ich die Letzte Kugel verwende, die Waffe ein letztes mal hebe, sie an meinen Kopf halte und abdrücke... Dann hat sich der Kreis geschlossen, dann ist das Magazin komplett leer.

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