Orléans' Kinder

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Als Louis de Calan am Morgen des vierundzwanzigsten Dezember seine Augen öffnete, da war er sich ganz sicher, welcher Tag heute sein würde. Er war sich so sicher, wie er diesen Tag zu gestalten hatte.

Louis de Calan war ein einfacher Junge, dessen Eltern ein Uhrengeschäft in der Rue de Montargis zweiundvierzig besaßen. Und ebenso, wie das Geschäft der Handwerker immer mehr zu verkommen schien, so war es, dass auch die Familie so wenig Livre besaß, dass sie sich kaum eine Kugel für den so tristen Baum kaufen konnten, nicht mal Geschenke, nicht mal Freude.

Louis schloss ein letztes Mal seine Augen, träumte von einer Gans mit kleinen Kartoffeln, einem festlichen Zimmer und den so prachtvoll verzierten Salon, wie er es immer aus den Erzählungen seiner Mutter hörte, die von Zeit zu Zeit am Hofe der Chevaliers als Hausmädchen fungierte. Sie erzählte davon, wie sorgsam die Kerzen für die Kronleuchter ausgesucht und angebracht wurden, welche Größe der Tannenbaum haben musste und wie schön er am Ende des langen Zimmers arrangiert wurde. Direkt am Ende des Salon stand er dann da, geschmückt mit roten Kugeln, weißem Lametta und güldenen Haltern für die so warm-leuchteten Kerzen. Der Tannenbaum vor dem Fenster und auf dem langen Läufer, auf dem Parkett aus dunklem Holz und so schönen Mobiliar. Seine Mutter erzählte ihm von den vielen kleinen und großen Geschenken, die die vier Töchter bekamen, sie berichtete, wie die schleifen im Hause gefaltet wurden, die Geschenke im Papier verschwanden.

Sie erzählte auch wie schön es war, wenn es dann am Abend anfing zu schneien, die kleinen Flocken ihren Weg nach unten tanzten und das gesamte Haus in einer solch friedliebenden Gegend stand, dass der Zwist und der Ärger, der sich über die ganzen Tage und Wochen so hartnäckig ansammelte, plötzlich verschwand. Davon träumte Louis, von einem Fest mit Freunden, von den Zinnsoldaten, die er vielleicht bekäme und der Eisenbahn, dem Nussknacker, dem Obst, denn kleinen Spielereien, welche er sich so sehr wünschte.

Träume und Wünsche waren in Zeiten, wenn getrocknete Orangen an den Fenstern hingen, Zimt aus der Küche duftete und die Nelken so so gut zum Essen passten, wie nie zuvor, näher als sonst. Es gab keine andere Jahreszeit in seinem Leben, keinen anderen Tag, an dem die Erfüllung seiner Wünsche so nah erschien, wie in der Zeit des lieblichen Weihnachtens.

Der Winter in Orléans war immer ein ganz besonderer. Nicht nur durch die lange Nächte, welche man bei Zeiten erlebte, nein, vor allem waren es die besonderen Gegebenheiten, die sich gerade zu dieser Zeit abspielten. Ja, im Winter gab es immer die meisten Wunder - vor allem, wenn dann das Haus so lieblich geschmückt war, wie sonst nie.

In Orléans feierte man schon immer gerne Weihnachten. Nicht zuletzt, weil die Familie Chevalier zu diesem Anlass ein ganz besonderes Fest veranstaltete, wie Louis es immer hörte, wie Louis es wusste, wie Louis davon träumte ein einziges Mal eingeladen zu sein. Zu einer Feier, bei welcher man seine Sorgen vergaß, seine Träume sich erfüllten und so zufrieden in die Zukunft sah.

Schon bevor man das Grundstück mit seinem arrangierten Wintergarten und Vorplatz betrat oder die Kutsche vor dem großem Tore hielt, verspürte man das Gefühl endlich angekommen zu sein. Am Ort des Elysiums, am Ort der Glücklichkeit selbst. Und auch wenn Louis nie eingeladen war, sich dann manchmal vor dem Haus platzierte und seinen Kopf auf die gebeugten Arme stütze, da bekam er dann doch immer ein wenig Herzrasen, ein kleines Lächeln zog ihm immer über das Gesicht. Es gäbe gar keinen passenderen Ort, als seine Zeit an diesem Abend in diesem Haus zu verbringen.

Es glich einem Märchen, wie seine Mutter es ihm immer erzählte, eine Erzählung, die noch Jahre später den Geist der schlimmen Kriege überstehen würde. Und Louis war ein Teil davon. Ein Teil, den man später vielleicht nie wieder betrachten würde. Er hörte von außen, wie die Gläser klirrten, da man auf glückliche Zeiten anstieß. Er lauschte der leisen Klavier- und Geigenmusik. Und da stand er, Louis, wie jedes Jahr, und träumte von einer besseren Welt, in jeder gleich sein würde, nur für einen Tag. In einer Welt, in der jeder Bewohner sich ein wunderbares Leben leisten kann. Einen wunderbaren Tag mit seinen liebsten, mit dem besten Essen, dem besten Baum und den besten Geschenken.

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