Die Unbegreiflichkeit des Augenblicks

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Er saß auf der Bank am Bahnsteig. Warm eingepackt in seine Jacke und einen dicken handgestrickten Schal. Seine Hände wärmte er an seinem Pappbecher mit Kaffee. Das heiße Getränk war das einzige, was ihm im Moment Wärme spendete, denn es war bitterkalt und wie es auf Bahnsteigen nun mal ist, zog es wie Hechtsuppe.
Seine Nase kräuselte sich über der schmalen Öffnung des Deckels und sog den Duft des Kaffees auf.

Er war tief in Gedanken und ließ all die Momente, die er im vorübergegangenen und bald zu Ende gehenden Jahr hier wartend auf den Zug verbracht hatte, an sich vorüberziehen.
Wartend auf den Zug und insgeheim wartend auf ...
Nun ja.
Was soll man Ereignissen hinterher trauern, die Vergangenheit sind. Was soll man auf Dinge hoffen, die nicht eintreffen werden.
Er seufzte und nahm einen Schluck Kaffee. Vorsichtig, immerhin war das Gebräu mächtig heiß.

„Ähm... Jako?"

Er pustete und nahm einen weiteren Schluck. Es schmeckte gut, aber ein wenig wünschte er sich er hätte wieder diesen Tee dabei.
Moment ... hatte er gerade seinen Namen gehört ...?

„Jako?"

Tatsächlich. Er tauchte ein wenig aus seiner Gedankenwelt auf und drehte sich nach rechts, in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Und dort sah er in zwei blaue Augen, die funkelten und blitzten ...

Es gibt im Leben solche Augenblicke, in denen man nicht weiß wie einem gerade geschieht.
In denen das, was um einen herum passiert, stillsteht und das, was um einen herum existiert, plötzlich verschwindet, als wäre es nie dagewesen.
Augenblicke, in denen das, was man vor Augen hat einfach nicht sein kann; man seinen eigenen Sinnen nicht glaubt und das Gefühl hat, man hätte regelrecht Wahrnehmungsstörungen.

Momente, in denen das, was man doch mit eigenen Augen sieht, einen so verwirrt, dass man am eigenen Geisteszustand zweifeln würde, wenn man noch in der Lage wäre, so komplexe geistige Vorgänge wie begreifen und zweifeln überhaupt noch hin zu bekommen.

Einen solchen Augenblick hatte Jako gerade.
Denn, mochte er das nun glauben oder nicht, da vor ihm stand Marti.
Nein, falsch ... Marti saß vor ihm ... in einem Rollstuhl.

Jako versuchte, zu schlucken, und irgendwie die gehirnchemischen Prozesse in die Wege zu leiten, die es ihm ermöglichen würden, Worte zu artikulieren. Es gelang ihm nicht.
Noch bevor er irgendeine strukturierte Handlung auf die Reihe kriegte, ertönte laut scheppernd und schnarrend die Ansage aus dem Bahnsteiglautsprecher:
„Achtung am Gleis 13 erhält Einfahrt der Intercity in Richtung Stuttgart mit Abfahrt 15 Uhr 35, Wagenreihenfolge wie angekündigt. Bitte steigen Sie zügig ein, wir werden pünktlich abfahren!"
Laut quietschend fuhr der Zug ein, und Jako hatte immer noch kein Wort herausgebracht.
Und auch Marti hatte nichts mehr gesagt. Er schaute schüchtern, ja beinahe ängstlich aus seinen wunderbaren blauen Augen.

Jetzt bemerkte Jako den jungen Mann, der neben Marti stand. Er trug eine Jacke mit dem Logo der Bahnhofsmission.
„Kommen Sie, Herr Fischer, ich bringe Sie wie abgesprochen in Ihr Abteil."
Er lief zum Zug, um bei einem sogenannten barrierefreien Abteil die Rampe herunterzuklappen. Dann half er Marti, in den Zug zu kommen und trug ihm sein Gepäck hinterher.
Dann verabschiedete er sich und verschwand.
Jako hatte die ganze Szene beinahe wie versteinert mit angesehen. Der einzige Gedanke, der ihm dabei bewusst durch den Kopf gegangen war, war: 'Jetzt weiß ich immerhin Martis Namen...'

Jetzt jedoch, als die Ansage aus dem Lautsprecher kam: „Vorsicht, die Türen schließen!" erwachte er aus seiner Starre, schnappte seine Tasche und rannte hinterher. Es war ihm egal, wo sein reservierter Sitzplatz war, er rannte die Rampe hinauf auf kam jappsend neben Marti zu stehen.
Er ließ sein Gepäck zu Boden gleiten, klappte sich einen Sitz hinunter und ließ sich darauf fallen.

Jetzt endlich war er wieder in der Lage zu sprechen.
„Marti!", sagte er.
„Was zum Teufel ... warum ... was ist hier los? Warum hab ich so lange nichts von dir gehört?"
Die Scheu schien aus Martis Augen zu weichen.
Er begann zu lächeln ... da waren sie wieder, diese Grübchen. Oh Mann, die Grübchen!
Und Jako spürte es wie mit einem Keulenschlag:
Die ganze Verliebtheit war wieder da. Mit aller Macht und aller Gewalt und trotz aller Umstände und allen Unwissens. Sie war wieder da und sein Herz schlug wie verrückt.

Marti räusperte sich und sagte:
„Jako ... ich bin so endlos froh, dass ich dich wiedersehe. Ich werde dir alles erzählen, aber bitte, sag mir, dass du mich nicht hasst."
Jako spürte wie ihm die Tränen in die Augen schossen.
Er schüttelte den Kopf und lächelte. Seine Kehle war ihm wie zugeschnürt.
Sprechen ging schon wieder nicht.
Also streckte er vorsichtig seine Hand aus, und als Marti seine eigene Hand nicht zurück zog, ergriff er sie und begann, sanft mit dem Daumen darüber zu streicheln.

Marti stieß ein erleichtertes Seufzen aus und sagte:
„Okay. Ich erzähle dir, was passiert ist."
Er schluckte. Es schien ihm schwerzufallen.

„Jako, ich hatte einen schweren Unfall."

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