» Kapitel 6 «

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Als Thunder die Bühne betrat, rastete das Publikum vollends aus. Ehrlich, mich wunderte, dass ich von dem Mädchen-Gekreische nicht komplett taub wurde. Eine Spur leiser wäre jedenfalls nett gewesen. Wobei ich zugeben musste, dass Thunder sogar noch besser aussah als im Internet. Nicht falsch verstehen, ich liebte die Musik von ihm, aber man merkte ihm einfach an, dass er ein typischer Player war und bestimmt tausende Mädchenherzen täglich zeriss. Zum Glück war er mir dann doch etwas zu alt, sonst hätte ich vielleicht genauso geschrien wie die erwachsenen Frauen neben uns.

Auch Lilli neben mir ging total ab und steckte mich mit ihrer Art irgendwann an, so dass wir letztendlich beide herumsprangen und mitsangen.

Nach ungefähr einer Stunde war ich total fertig und entfernte mich vom Rand der Bühne, um mich weiter hinten an die Absperrung zu setzen und wieder herunter zu kommen. Ich trank etwas und drängelte mich dann wieder zu Lilli nach vorne, was sich als schwerer herausstellte, als gedacht, weil gefühlt alle Menschen versuchten mich wieder nach hinten zu schubsen.
Als ich schlussendlich bei Lilli ankam, die immer noch laut mitgrölte und inzwischen sogar ein Pappschild nach oben hielt, vermutlich mit Liebesbekundungen, startete schon die Musik meines Lieblingssongs von Thunder: "Fire In My Heart" und ich strahlte Lilli an. Sie grinste zurück.

Thunder wandte sich jetzt auch wieder direkt an das Publikum: "Okay, Leute. Passt auf. Wie ihr bestimmt schon hören könnt, startet jetzt einer meiner beliebtesten Songs und ich hoffe, ihr könnt ihn alle mitsingen!" Das Publikum grölte zustimmend.
"Perfekt, perfekt. Im Refrain möchte ich euch bitten, alle eure Handytaschenlampen anzuschalten, das sieht von hier vorne einfach mega aus, und so laut mitzusingen, wie ihr könnt!"
Lilli, das restliche Publikum und ich schrien laut: "Ja!".

Thunder trat weiter vorne an die Bühne, so dass ich ihn hätte berühren können, wenn ich meinen Arm ausgestreckt hätte. Das vordere Publikum jubelte, er begann mit der ersten Strophe und lief vor uns auf und ab. Er war fast am Ende der Strophe als er plötzlich direkt vor Lilli und mir stoppte und sich Lillis Schild durchlas. Dann gab er der Band ein Zeichen und sie hörten auf zu spielen. Im Hintergrund waren enttäuschte Stimmen zu hören.

Thunder beugte sich zu Lilli vor und war uns so nah, dass wir sein Aftershave vermischt mit seinem Schweiß riechen konnten.
"Wie heißt du?", richtete er sich jetzt direkt an Lilli.
Diese schnappte nach Luft und antwortete heiser: "Lilli!".
"Und was auf deinem Plakat steht, stimmt?"
Lilli nickte eifrig. Oh Gott, sag bloß nicht, sie hatte ihm einen Heiratsantrag gemacht.
"Mhh, na dann. Lassen wir uns mal überraschen. Wer ist denn deine Freundin?"
Lilli zeigte auf mich und überrascht blickte ich sie an. Was hatte das Ganze denn jetzt mit mir zu tun?
Sollte ich Trauzeugin spielen? Oder Pfarrer?
"Na los, dann komm mal auf die Bühne. Ich bin echt gespannt!", richtete er sich jetzt an mich und ich erstarrte.
Wie bitte? Ich sollte auf die Bühne?
Ich sah Lilli erschrocken an, aber sie zwinkerte mir nur zu und flüsterte ein: "Ich glaub an dich!", in meine Richtung.

Verwirrt ließ ich mich von Thunder auf die Bühne ziehen und mir wurde von irgendwoher ein Mikrofon gereicht.
Dann drehte ich mich um und... wow! Die Aussicht war einfach unglaublich. So viele Menschen hatte ich noch nie auf einem Fleck gesehen. Und alle starrten mich an! Hilfesuchend schaute ich zu Lilli und konnte dadurch die Schrift auf ihrem Plakat lesen:

"MEINE FREUNDIN HAT HEUTE GEBURTSTAG UND EINE TOLLE STIMME! KANNST DU IHR DIE CHANCE GEBEN, DAS ZU BEWEISEN?"

Oh nein.

Das hatte sie nicht getan.

Erschrocken blickte ich zu ihr, aber sie schenkte mir nur aufmunternde Blicke und zeigte mit ihrem Daumen nach oben.

DAS war eine Lilli-Aktion, nur dass sie noch verrückter war, als alles andere bisher!
Gott, sie konnte was erleben, wenn ich erstmal wieder hier herunter war!

Die Stimme von Thunder, der nun zum Publikum sprach, holte mich wieder zurück in die Gegenwart und ich spürte wie meine Panik immer größer wurde.
"Also, da hat sich jetzt noch was ergeben. Ich werde nämlich den Refrain mit dieser...", er zeigte auf mich, "... wunderbaren Dame zusammen singen. Lassen wir uns überraschen!
Ach ja, vergesst die Taschenlampen nicht."

Alles klar, mein Todesurteil war unterschrieben. Nicht, dass ich nicht gut singen konnte oder Lampenfieber hatte, aber ich war auf diese Situation überhaupt nicht vorbereitet gewesen. Wenn ich mich jetzt blamieren würde, wäre mein Leben vorbei. Ich müsste auswandern, an den Nordpol zum Beispiel und dort dann mit Eisbären zusammen leben!

Okay, gaaanz ruhig bleiben, Jessi. Vor dir stehen nur tausende Menschen, die dich gleich singen hören werden. Keine Panik!

Die Band startete wieder mit dem Song und Thunder sang die erste Strophe direkt neben mir, wobei er mir immer wieder aufmunternde Blicke schenkte.
Dann begannen die Zwischentakte zwischen Strophe und Refrain und er wisperte mir ins Ohr: "Keine Panik, ich weiß, dass das Gefühl hier oben überwältigend ist, aber wenn wir deiner Freundin vertrauen, wirst du das rocken!".

Er drehte sich ganz zu mir und ich blickte noch ein letztes Mal zum Publikum. Von überall leuchteten Taschenlampen und es war einfach wunderschön. Ich hätte fast meinen Einstieg verpasst, aber Thunder stupste mich leicht mit dem Ellbogen an und wir begannen zu singen.

Burn, burn, burn!
Don't you see, the fire is taking me?
Burn, burn, burn!
Don't you see, the fire devours me?
Burn, burn, burn!
The fire in my heart!
The fire, the fire, the fire in my heart!

Ich öffnete die Augen wieder und sah das Publikum toben. Auch Thunder sah beeindruckt auf mich herab. Er sang die zweite Strophe alleine, dann mit mir zusammen den nächsten Refrain und ließ mich die Bridge alleine singen, was für noch mehr Jubel sorgte. Als das Lied endete, fühlte ich mich wie in Trance und konnte gar nicht realisieren, was so eben geschehen war. Ich meine, hallo? Ich hatte mit einem meiner Lieblingssänger zusammen meinen Lieblingssong gesungen und das auch noch vor einem riesigen Publikum. Mir wurde ganz schlecht und ich schwankte etwas.

Thunder hingegen schien es blendend zu gehen und er kam, sein typisches Zahnpasta-Lächeln auf den Lippen, zu mir herüber und legte mir einen Arm auf die Schulter.

"Wow, London! Wenn das mal nicht unglaublich war!"
Das Publikum jubelte zustimmend und ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
"Jetzt stehe ich hier neben einer so begabten Sängerin und weiß nicht mal ihren Namen!", entgegnete er jetzt in meine Richtung und ich zuckte zusammen.

Mein Name. 

Scheiße, scheiße, scheiße!

Ich hatte vor all diesen Menschen gesungen, dabei durfte ich nicht einmal hier sein. Ich war zwar "verkleidet", aber was, wenn meine Schwester mich trotzdem erkannt hatte? Meine Eltern würden mich nie wieder aus dem Haus lassen. Okay, ich durfte mich jetzt nicht unterkriegen lassen. Thunder sah mich erwartungsvoll an und wartete auf meine Antwort.

"Mein Name..." Zwanghaft suchte ich in meinem Kopf nach einem Namen. "Mein Name ist Alex!"

ALEX: Fake IdentityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt