Prolog

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Sonnenlicht brach durch die Baumkronen des Waldes und malte goldene Flecken auf das Fell zweier Pferde, die wie die Diebe verstohlen durch das Unterholz schlichen. Das größere von beiden, eine schlanke weiße Stute mit edlem Kopf, sah sich immer wieder unruhig um. Ihr isabellfarbenes Hengstfohlen, gerade einmal vier Pferdejahre alt, sprang munter umher, quiekte und bockte übermütig und rettete Marienkäfer aus Spinnennetzen. Die Stute, die niemand geringeres als Königin Avalanche Naira van Ciraton war, musste gerührt lächeln. Ihr Sohn war so anders als sein Vater. Wie konnte ein so freundliches und großherziges Wesen ein Nachfahre des grausamen, vom Volke als "Schattenkönig" bezeichneten  König Sombra Thoraval van Ciraton sein? "Mama?" fragte da das Fohlen. "Sagst du mir jetzt, wieso wir eigentlich hier sind?" Avalanche warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und flüsterte dann: "Shhhh mein Kleiner! Wir spielen Versteckenfangen mit Papa. Wenn er uns findet, haben wir verloren." "Aber warum müssen wir das gerade jetzt machen? Es ist noch so kalt und dunkel und ich bin müde!" beschwerte sich das Hengstfohlen. "Das macht das Spiel aus." erklärte Avalanche leise. "Aber du streitest dich doch immer mit Papa. Warum spielen wir jetzt auf einmal?" hakte ihr Sohn verwirrt nach. Die Königin zuckte ertappt zusammen. Sie hatte den Scharfsinn ihres Fohlens unterschätzt. Nur durch Zufall hatte sie die Beratung zwischen Sombra und Sir Uranos, seinem engsten Vertrauten, belauschen können. Daraus ging hervor, dass Sombra plante, das gemeinsame Fohlen umzubringen, um seine Herrschaft und (zweitrangig) Ciratons Machtposition nicht zu gefährden. Alvaro, wie er das Fohlen getauft hatte, war zu weich, und seiner Ansicht nach nicht als neuer Herrscher geeignet. Doch als Erstgeborener hatte der junge Alvaro ein Anrecht auf den Thron, welches er nur verlieren würde, wenn er starb. So sollte ihm ein "kleines Unglück " zustoßen und die Sache war vom Tisch. Sombra waren verweichlichte Hengste genauso zuwider wie matschige Bananen, und tatsächlich hatte Königin Avalanche den kleinen Alvaro zu Güte, Freundlichkeit und Sanftmut erzogen, so wie sie von aus ihrer Familie gelernt hatte. Nun wollte sie ihren Sohn so schnell wie möglich in Sicherheit bringen, um sein Leben nicht zu gefährden. Sie konnte nicht riskieren, dass ihm etwas zustieß. Avalanche hatte schon zu viel verloren. So wollte sie doch das einzige bewahren, das ihr noch am Herzen lag. Ihr Plan war es, Alvaro bei ihrer langjährigen Freundin Königin Calionora van Eldoras zu verstecken und selbst unter einem Decknamen als Zofe im Schloss zu leben. Calionora erwartete in Kürze ihr erstes Fohlen, und so hätte Alvaro, dem oft langweilig war, auch einen Spielgefährten. Plötzlich vernahm die Stute Hufgetrappel im Gestrüpp. Sie erstarrte, hob die Nüstern in die Luft und witterte. Zusätzlich hörte sie eine raue Stimme eiserne Kommandos brüllen. Beunruhigt erkannte sie Sir Uranos, die oberste Leibwache Sombras und ein halbes Dutzend anderer Soldaten. Ihre Flucht war aufgeflogen! Nun musste Avalanche schnell handeln. Sie zog den kleinen Dolch, den sie in den Falten ihres Mantels versteckt hatte und steckte Alvaro eine Rolle Pergament in die Tasche an seinem Mantel. "Alvaro, mein Herz! Lauf! Lauf so schnell du kannst, immer gen Osten, bis du nach Eldoras kommst! Und sieh nicht zurück, schau auf gar keinen Fall zurück!" beschwor die Königin ihr Fohlen. "Aber Mama, warum denn? Ich will nicht weg!" protestierte Alvaro. Avalanche nahm das Gesicht ihres Sohnes zwischen die Vorderbeine und sah ihm ernst in die Augen. "Alvaro, hör mir jetzt zu! Das hier ist kein Spiel mehr! Du musst jetzt laufen. Geh immer abseits der Wege." "Ich will bei dir bleiben, Mama!" wimmerte der kleine Hengst. Tränen standen in seinen blauen Augen. "Du kommst doch nach, nicht wahr?" "Ich tue alles dafür." versprach Avalanche und drückte dem Fohlen ihre Lippen auf die Stirn. "Aber wir haben jetzt keine Zeit mehr. Ich liebe dich. Immer. Mehr als alles andere. Und jetzt renn!" Ihre letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Unsicher galoppierte das kleine Pferd mit seinen langen Beinen davon. "Renn, Kind!" wisperte Avalanche, Tränen liefen ihr über das schöne Gesicht. Den Dolch fest zwischen den Zähnen wartete sie darauf, sich den Soldaten zu stellen.
Panisch stolperte Alvaro über Wurzeln und am Boden liegende Äste, Zweige peitschten ihm gegen das tränennasse Gesicht. Er wusste, dass dies der Abschied war. Da plötzlich wieherte ein Pferd, laut und wütend. Der Schrei brach abrupt ab. Es war das letzte, was Alvaro je von seiner Mutter, der tapferen Königin Avalanche Naira van Ciraton, hören sollte. Sie war gefallen. Überwältigt von Trauer, Schmerz und Fassungslosigkeit blieb Alvaro mit in den Nacken geworfenem Kopf stehen und schluchzte auf. Seine Beine versagten ihren Dienst, er taumelte, rutschte einen kleinen Berghang hinab und blieb zusammengekauert und weinend in einer Kuhle liegen. Irgendwann vernahm er Schritte und sah ängstlich auf. Ein großer goldener Hengst, mit Narben am ganzen Körper - Zeichen vieler Kämpfe - , stand vor ihm. "Hab keine Angst, Kleiner." sagte er in einem tiefen Bariton, der dem Fohlen in der Brust vibrierte. Er sah die Schriftrolle, die immer noch in der Manteltasche des zitternden Alvaro steckte, nahm sie und las den Inhalt. Dann nickte er. "Komm mit!" brummte er. Alvaro starrte ihn nur ängstlich an. Nie mit Fremden mitgehen, hatte seine Mutter ihm immer gesagt. Doch der goldene Hengst stupste ihn nur freundlich mit der Nase an. "Steh schon auf, mein Junge." Der kleine Prinz rappelte sich hoch und stolperte dem goldenen Fremden gegen die massige Brust. "Heyda, nicht so stürmisch." brummte der und schritt voraus. Zögernd folgte Alvaro dem riesenhaften Hengst in den Wald, hinein in ein neues Leben.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 14, 2018 ⏰

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Die Chroniken von Antarras *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt