Kapitel 1

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Sie sind wieder da.

Sie waren nie weg. Haben sich versteckt und gewartet, bis sie sich erholt hat, beruhigt hat, verdrängen konnte. Immer wieder versucht sie zu hoffen, dass sie nun doch endlich verschwunden sind, abgetaucht, wie ihre Körper. Aber ihre Stimmen sind noch da, ihre Geister waren nie weg, haben sich nur wieder zu erkennen geben. Haben sie beobachtet, bis sie zu hoffen versuchte, zu vergessen.
Dann kamen sie wieder.

Sie kommen immer wieder und verbreiten ein Gefühl von eiskaltem Wasser. So kalt. Es rinnt an ihr herab, umhüllt sie. Sie ertrinkt immer wieder aufs Neue, weil sie damals nicht ertrunken ist. Nicht tot gewesen ist, auch vor dem Wasser. Im Dunkeln. Niemand ertrank damals. Aber es hat sich für sie so angefühlt. Als die Körper sie streiften, glitschig, vermodert, da ertrank sie. Sie ertrinkt immer wieder in den Erinnerungen an die Nicht-Ertrunkenen, eben weil keiner ertrank und trotzdem alle gestorben waren. Im Dunkeln davor. Dort kamen die Vermoderten her, weil im Verlies kein Platz mehr für sie war, sie keinen Nutzen mehr hatten.

Sie möchte schreien, doch sie schafft es nicht. Natürlich nicht. Ihren letzten Schrei schrie sie im Dunkeln, noch vor dem Wasser. Dort schien ihr aber nicht nur ihre Stimme abhandengekommen zu sein. Die Erinnerungen verweilten dort mit ihrer Stimme, gefangen zwischen glitschigen Mauern, glitschigen Leibern und einem Versprechen.

Statt zu schreien, fängt sie also nur an zu zittern. Das Wasser ist kalt. Sie möchte ihre Hand herausziehen, doch tut es nicht. Das hier ist eine Chance und Chancen darf man nicht verpassen, weswegen sie nur noch tiefer hinein greift. Nur noch ein Stück, dann würde sie ihn erreichen. Wäre sie doch nur ein bisschen größer, die Arme länger. Sie spürt ihn schon, wie er unter dem Druck ihrer Fingerspitzen nur noch weiter ins Wasser gedrückt wird. Nur noch ein Stück. Sie hört es hinter sich trampeln, fluchen. Ihre Chance scheint sie gerade verpasst zu haben, aber sie streckt sich nur noch mehr. Sie muss ihn haben, gibt nicht auf.

Plötzlich spürt sie grobe Finger, die sie greifen, fest zupacken. Schmerz durchzuckt sie, als diese sich in ihr Fleisch bohren und sie hochgezogen wird, während alle Luft aus ihren Lungen entweicht. Sie könnte sich verteidigen, aber ihre Arme sind im Wasser, ihre Finger versuchen das Objekt zu greifen, es festzuhalten. Nicht nah genug. Noch nicht.

Die Finger bohren sich fester in ihre Seiten, sie hört seinen Atem rasseln und sein Herz klopfen, als ihr Peiniger sie höher hebt, flucht, anfängt, sie zu schütteln. Alles verschwimmt, ihr wird schwindelig. Aber jetzt ist sie nah genug. Endlich. Sie merkt es zwischen ihren Fingern, als das Schütteln nachlässt und mit einer ruckartigen Bewegung schnellt ihr Oberkörper nach vorne, soweit es der eiserne Griff ihres Häschers zulässt und ihre Hände umschließen den Gegenstand. Perfekt. Jetzt geht alles ganz schnell. Sie spannt sich an. Ihr Bein findet fast allein den Weg nach hinten und sie realisiert noch, wie sich der Griff um sie lockert, ihr Hintermann stöhnt und leicht in sich zusammensackt. Dass er sich seinen Schritt hält und allerlei Verwünschungen ausstößt, bekommt sie nicht mehr mit. Sofort, als ihre Füße den Boden berühren, rennt sie los. Nur weg.

Bald erreicht sie eine Seitenstraße, in der sie sich unbemerkt wähnt. Hier bricht sie zusammen. Schweiß steht auf ihrer Stirn, alles schmerzt und sie bekommt kaum Luft. Doch das kann das erschöpfte Grinsen nicht verhindern, welches sich bei ihr ausbreitet, als sie, auf dem verschmutzten, nassen Boden liegend, ihr Diebesgut betrachtet. Er war nicht besonders groß, aber mit diesem Apfel würde sie die nächste Zeit überstehen, bis sich für sie eine neue Chance auftut.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 15, 2018 ⏰

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