Das Dach war undicht. Mit einem rhythmischen Geräusch fielen immer wieder Wassertropfen in den kleinen Plastikbecher. Er hatte eine Weile gebraucht bis er ein Gefäß gefunden hatte, das er unter das Loch stellen konnte. Alle seine Gefäße waren besetzt. Seine Kochtöpfe und seine Waschschüssel standen unter den größten Löchern. Um Kochen zu können, während es regnete musste er immer erst alle Gefäße umsortieren, bis er ein Freies hatte. Er saß auf einer Plastikplane, die ihn vor dem schimmligen Boden schützte, seine graue Filzdecke über seinen Beinen ausgebreitet. Er wusste nicht wie lange er da schon saß. Zeit war das einzige Gut geworden, das er besaß. Er starrte aus dem Fenster, auf die Stadt, die er einmal so geliebt hatte. Das war gewesen bevor seine Frau gestorben war. Ohne sie machten die Spaziergänge im Park und in der Innenstadt keinen Spaß mehr. Ohne sie war die ganze Stadt zu einer Masse aus grauen Gebäude geworden. Eine Stadt, die ihn nur duldete weil er ihr egal war. Der Abstand der Tropfen wurde größer, die Geräusche, die sie verursachten, leiser und weniger wahrnehmbar. Langsam stand er auf und belastete seine Beine, die vom langen Sitzen steif und kalt geworden waren. Er wickelte seine Decke in die Plastikplane um sie trocken zu halten und guckte nochmal ob alle Behälter am richtigen Platz standen. Der Schlüsselbund mit dem er seine Wohnung abschloss, nachdem er sie verlassen hatte, klimperte. Leise schlug das Medaillon mit dem Foto seiner Frau an den Haustürschlüssel und verursachte das hohe Geräusch. Er quälte sich die Treppen herunter. Mit jedem Tag wurde er langsamer, seine Schritte schwerer. Der Himmel der ihn draußen erwartete war grau. Regenwolkengrau. Die Lichter der Straßenlaternen spiegelten sich in der nassen Straße, malten bunte Muster auf den schwarzen Asphalt. In solchen Momenten wünschte er sich seine Kamera nicht verkauft zu haben, aber er hatte das Geld gebraucht. Ein paar Menschen hatten sich in der Bushaltestelle vor dem Regen untergestellt. Ihre Gesichter wurden von unten mit kaltem, weißem Licht angestrahlt, das seltsame Fratzen auf ihre Gesichter zauberte. Sie standen da wie Geister, wie Gefangene des kleinen Bildschirms in ihrer Hand. Nur der kleine Junge bemerkte ihn. Seine schwarzen Haare waren verstrubbelt und er hatte einen Schokoladenfleck auf der linken Wange. Er lächelte ihn an, wie nur kleine Kinder einen anlächeln können, naiv und völlig im Moment gefangen. Die kleine Hand mit den kurzen, dicken Fingern hob sich und schickte ihm einen schokoladenverklebten Gruß quer über die Straße. Er winkte zurück, guckte dabei auf seine Hand, die so viel größer und von Runzeln und Altersflecken überzogen war. Der Junge guckte an seiner Mutter hoch, die ihren Blick in der ganzen Zeit nicht einmal vom Bildschirm gelöst hatte. Er rannte los. Erstaunlich schnell brachten ihn seine kurzen Beine auf die andere Seite der leeren Straße. Die kleine Hand drückte blitzschnell etwas in die Große. Bevor der Mann realisiert was sich da in seiner Hand befand, stand der Junge schon wieder neben seiner Mutter und schlang seine Arme um ihr Bein, was sie mit einem genervten Blick nach unten zu ihm kommentierte. Der alte Mann schaute zu dem Jungen, dann auf das Stück halb geschmolzener Schokolade in seiner Hand, dann wieder zu dem Jungen, der fröhlich vor sich hin grinste, als wüsste er ganz genau das er jemandem gerade den Tag gerettet hatte. Aber er konnte es nicht wissen, viel zu jung war das Gesicht mit den Augen so braun wie Zartbitterschokolade dafür. Diesmal lächelte der alte Mann zurück. Er lächelte. Zum ersten Mal an diesem Tag. Vielleicht sogar zum ersten Mal in dieser Woche. Er lächelte über ein Stück halb geschmolzener Schokolade. Das hatte er nicht mehr getan seit er selbst ein kleiner Junge mit schwarzen Haaren und zartbitterschokoladenfarbigen Augen gewesen war.