Vom Ich zum Du zum Wir / SeBaek

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Ich kann mich nicht an Vieles meiner Kindheit erinnern. Fast schon schemenhaft flattern die Erinnerungen in meinem Gedächtnis herum. Ich kann mich schwach daran erinnern, wie die ersten Sonnenstrahlen des Jahres meine Nase kitzelten, ganz sanft und lieblich meinen Körper wärmten. Ich kann mich daran erinnern, wie wir die dicken Wattebäusche am unergründlichen und so unendlich blauem Himmel betrachteten. Ich erinnere mich an die pastellenen Farben und das lebendige Treiben des Frühlings, dessen Wärme sich fast schon heimlich in mein Herz schlich und sich ausbreitete. Und ich kann mich erinnern, wie der Winter verschwand. Wie der Frühling kam und auch er verschwand. Wie der Herbst langsam in seinem leuchtenden Rot und Gelb verblasste. Und wie der Winter wieder kam. Die Temperaturen stiegen und sanken. Die Sonne schien, der Wind blies, der Regen prasselte hinab und wurde irgendwann zu Schnee und Eis, ehe der ganze Kreislauf von neuem begann.


Und zwischen all dem ganzen Trubel an Veränderungen, die dauerhaft, ständig, immer, einfach so passieren, kommt es hin und wieder vor, dass man vom Leben erdrückt wird. Das fühlt sich an, als würden Tonnen an Blei an deinen Füßen hängen und dich in eine so unendlich tiefe Schwärze ziehen, die nicht nur von Gleichgültigkeit besprenkelt, sondern auch schmerzhaft real zu spüren ist. All das Positive, all die schönen Gedanken und Erinnerungen verblassen schemenhaft und lächeln dich grotesk an, während sie wie geschmolzenes Eis in der Erde versickern.

Ich glaube daran, dass es manche Dinge im Leben gibt, die einfach festgelegt wurden. Sie wurden von einem sadistischen Wesen genau so festgelegt, dass der Mensch immer Positiv und Negativ erfahren wird.


Da würde sich nie etwas daran ändern. Erst wenn man von ganz weit oben hinab fällt, spürt man beim Aufprall, dass man noch lebt. Vielleicht nur in einer Sekunde entscheidet sich dann, ob wir Menschen aufstehen und kämpfen oder bibbernd und verängstigt liegen bleiben. Uns dort ganz unten reglos damit zufrieden geben, was für uns vorgesehen war. Genau das tat ich. Mein ganzes Leben lang habe ich akzeptiert und akzeptiert und akzeptiert. Ich war der festen Überzeugung, dass es so kommen musste, wie es nun mal kam. Ich habe es verstanden, dass es nie ein Uns geben würde, nie ein Wir. Niemals. Es schmerzt in meiner Brust, all das zu überdenken, was ich längst tot gedacht hatte, sofern dies überhaupt möglich war und in meiner Macht stand.


Denn das, was ich glaubte tot gedacht und verarbeitet zu haben, war längst nicht bewältigt oder vorbei. Niemals. Menschen vergessen nicht das Negative. Menschen sind so sprunghaft wie die Wolken am Himmel, die immer wieder nach vorne, nach hinten, nach rechts oder links flattern, sich nie dessen bewusst zu sein, was das Richtige ist. Mal weiß, mal schwarz, mal geladen, mal voller Flüssigkeit. Wolken quellen irgendwann auf und dann ergießen sie sich ungestüm über der Erde, über alles, was ihnen im Weg steht. Ohne Angst auf Verluste oder Reue. Wenn man von Pech verfolgt ist, der Sadist des Lebens es so wünscht und du selbst deine Verteidigung nicht schnell genug, nicht stark genug, um dein schwächliches Herz erbaut hast, dann ist es schneller da, als du es hättest kommen sehen. Man verliert sich im Trubel der Veränderung. Und zwischen all der Veränderung, da ziehen die Wolken klamm und heimlich weiter, während man selbst voller Ungeduld noch immer auf den versprochenen Regenguss wartet, der nicht eintreffen würde.


Er würde nicht all das Grausame in deinem Kopf hinfort spülen, er würde nicht das Alte und Schlechte verbannen, um dem Neuen Platz zu verschaffen. Die Wolken, der Regen und alles darum herum verschwinden einfach. Von einem auf den anderen Tag. Wie ein kurzes Gewitter im Sommer, zuerst tobend laut, grollend und offensiv und in der nächsten Minute verpufft es mit einem kurzen, grellen Zucken am geschwärzten Himmel. Der zuvor prasselnde Regen, der ungestüm den Weg zur Erde suchte, weicht einem monotonen Plätschern, bis nach wenigen Minuten jegliche Geräusche verebben und sich in der Stille verlieren. Die Wolken ziehen weiter, bis sie nicht mehr erkennbar sind und genauso verlieren sich Menschen. So wie der Himmel die Wolken verliert.


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