Kapitel 1: Ziellos

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Nancey holte ihre Sportsachen aus dem Spind und lief zu den Umkleidekabienen. Auf dem Weg dahin band sie ihre langen Haare zusammen. Sie waren weiss, nicht blond sondern Schneeweiss. Mit ihren grauen Augen gab sie eine spezielle Erscheinung ab. Nancey war 13 Jahre alt und im 8. Schuhljahr. Mehr wusste niemand über sie. An der Schule hatte sie keine Freunde, obwohl viele Schüler sie gerne kennengelernt hätten. Jedoch war sie nicht sehr interessiert an Interaktionen mit anderen und wich den meisten Konversationen so gut es ging aus. Lange war sie noch nicht an der Schule, erst seit etwa drei Monaten. Die Mädchen aus ihrer Klasse hielten sie für arrogant und überheblich. Warscheinlich weil sie in fast allem überdurchschnittlich gut war. Neid war ein heimtückisches Gift in der Gesellschaft. Damit würden sie bald wieder im Sportunterricht konfrontiert werden...

Mit federndem Gang lief sie durch die Schulgänge. Sie hatte lederne Mokassins an, trug schwarze Hosen und ein Stoffumhang hing um ihre Schultern. Um ihren Hals hingen unzällige Ketten, sodass sie bei jedem Schritt aneinanderklapperten. Einige beneideten sie um ihr Selbstbewustsein, einigen fiel sie nicht auf, einige fanden sie interessant und dachten sich Geschichten aus, wer sie wohl war. Wer sie war, wusste sie selbst nicht. Es gab viele Rätsel und Geheimnisse in ihrem Leben, die sie nicht zu ergründen vermochte. Zum Beispiel wieso ihre Mutter immer weiterziehen wollte. Wieso sie kein richtiges Zuhause hatten. Nanceys Mutter Reyna war in der Forschung tätig und lebte mit ihrer Tochter allein. Ohne Vater, etwas weiteres, dass Nancey nicht verstand. Als sie jünger war, gefiel ihr das. Reyna war ihre Heldin, da sie vieles erlebten, das wenige von sich behaupten konnten gesehen zu haben. Nancey genoss dieses Leben. Bis vor etwa zwei Jahren als ihre Mutter auf die bescheurte Idee kam, sie in die Schule zu schicken und so fast jeder Tag unerträglich wurde. Die Schule war der Ort an dem Nancey anfing sich mit anderen zu vergleichen und ihr erst da bewusst wurde was sie alles verpasst hatte. Sie war nicht neidisch auf  Andere, die einen etwas normaleren Lebensstil lebten, denn gleichzeitig schätzte sie die ungewöhnliche Kindheit die sie erfahren durfte; Sie hatten schon in allen Kontinenten der Welt gewohnt, verschiedenste Kulturen kennengelernt und die ausssergewöhnlichsten Tiere gesehen. Das hatte ihr früher gefallen, es war aufregend und es gab ihr das Gefühl, besonders zu sein.
Und jetzt? Sie hatte sich daran gewöhnnt, keine lange anhaltenden Freundschaften und keinen Vater zu haben. Es gab eine Zeit da war sie wütend auf jeden, dass sie dieses Privileg nicht hatte, doch mittlerweilen empfand sie Freunde eher als Zeitverschwendung. Ihren Vater hätte sie gerne gekannt doch nun sah sie auch darin keinen Sinn mehr ihre Energie darin zu investieren ihn zu suchen oder ihre Mutter mit Fragen zu penetrieren.
Nancey kannte auch ihre Verwandten kaum. Da waren nur sie und Reyna. Manchmal bekam sie eine Geburtstagskarte von ihren Grosseltern, den Eltern ihrer Mutter. Diese Ansammlung an Karten hatte sie letztes Jahr verbrannt, das hatte ihr ein wenig Genugtuung verschafft, wie gesagt sie hatte eine Phase in der sie sich an der Welt rächen wollte. Weil das Schicksal ihr dieses Leben gegeben hatte. Wenn sie jetzt über ihre damaligen Gedanken nachdachte musste sie schmuzeln. Es waren jene eines trotzigen Kindes, sie war froh dass sie die Dinge nun objektiver betrachten konnte.
Bevor sie nach London gezogen sind, wohnten sie in Kapstadt. Da besuchte sie eine englische Schule, wo sie eine inspirierende Zeit erleben durfte. Sie fing mit Breakdance an und lernte dadurch eine Gruppe von gleichaltrigen Teenagern kennen, mit denen sie die Leidenschaft des Tanzens entdeckte. Das beste waren die Flashmobs die sie mitten auf den Strassen abhielten. (Die Reyna ihr natürlich immer versuchte zu verbieten). Diese Menschen wuchsen Nancey ans Herz und waren für eine kurze Zeit lang, eine Famillie für sie. Es war eine sehr erfüllende Zeit und ihr fiel es schwerer als sonst sich von einem Ort zu trennen. Doch die Forschungsarbeiten ihrer Mutter waren zu Ende und ein neuer Auftrag, eine neue Stadt wartete auf sie.
Reyna beschäftigte sich oft mit der Frage ob es Nancey gut tat wie sie lebten. Sie konnte nicht von ihrer Tochter Verständnis dafür erwarten wieso sie kein richtiges Zuhause hatten. Sie wusste so Vieles noch nicht. Im Moment war Nancey einfach sehr zurückhaltend und machte sich viele Gedanken darüber was sie von den Anderen unterschied.
Eine Weile schon lief jemand neben ihr her. Sie hatte ihn bemerkt aber wartete bis er etwas sagte. « Nancey Hallo. Wie geht's?» Nancey schaute in das fröhliche Gesicht eines Klassenkameraden. Sie fand ihn sympathisch aber nicht so interessant, dass sie ihn ansprechen würde. Mit unveränderter Miene antwortete sie ihm: «Jonas. Gut, danke. Wie kann ich dir helfen?» «Ja ähm.. Schön. Schön das es dir gut geht meine ich.» Sagte er etwas unbefangen. Warscheinlich war er nervös, weil er sie nicht einschätzen konnte. Anders war es bei Nancey, sie durchschaute Menschen, durch ihr analythisches Denken, recht schnell. Sie fand es interessant die Art und Verhaltensweise von Anderen zu beobachten und sich davon ein Bild zu machen. Oder wie es die Masse bezeichnen würde: psychopathisches Stalking.
„Ich habe eine Frage an dich." meinte er immer noch ein wenig verunsichert aufgrund der nicht vorhanden Reaktionen Nanceys. Endlich nach einigen viel zu langen Sekundne rückte er mit der Frage raus: «Kannst du mit mir auf die nächste Matheprüfung lernen? Du verstehst das Thema und ich darf nicht wieder ungenügend sein. Bitte.» Jonas schaute sie flehend an. Nancey wollte ihm zuerst ehrlich antworten und ihm erklären, dass sie keine Lust dazu hätte doch dann kamen ihr die gesellschaftlichen Verhaltensregeln wieder in den Sinn und sie meinte schlicht, dass es ihr Leid täte aber sie keine Zeit hätte. «Kein Problem, ruf mich an wenn du vielleicht doch noch Zeit hast.» Sagte er etwas betrübt. «Ich glaube nicht,..» Setzte sie an, aber Jonas hielt ihr schon sein Handy unter die Nase. Sie nahm es und Tippte ihre Nummer ein. Dann drehte sie sich um und wollte gehen aber er wollte es nicht darauf beruhen lassen und meinte: «Nancey, du hast vergessen mir deine Nummer zu geben. Ich meine das wäre doch nur gerecht, jetzt wo du meine hast.» Sie musste schmunzeln, anscheinend war Jonas ein wenig interessanter als sie vermutet hatte. Also nahm sie ihr Handy aus der Tasche während sie weiter lief und tippte eine Nachricht auf Whatsapp ein; «Bis Nachher!», rief er überascht als sein Handy einen eingehende-Nachricht-Ton von sich gab. Doch Nancey hörte ihn nicht mehr, sie war schon längst in der Umkleidekabiene verschwunden. Dort waren schon alle umgezogen oder beeilten sich fertig zu werden. Nancey jedoch nahm sich Zeit, sie wusste genau, was sie sich bei jedem einzelnen Lehrer leisten konnte und was nicht. Und Zu spät kommen lag bei Ms. Leeny völlig drin. Denn Nancey vermutete, dass Ms. Leeny sie brauchen würde um die Turnübungen verständlich vorzeigen zu können. Im Sport war sie nämlich ein Ass. Diese Tatsache nutzte sie aus. Langsam nahm sie ihre Ketten ab. Von jedem Ort, an dem sie gewohnt hatte, besass sie eine Kette, um ausser den Erinnerungen noch etwa Greifbares zu haben.
Für Andere mag sich das nach einer, komischen Angewohnheit anhören. Aber Nancey hatte jede Erinnerung zu einem bestimmten Ort in ihrem Gedächnis eingeordnet und die Ketten waren der Schlüssel dazu. Wenn Nancey so über diese Definition nachdachte, klang die noch komischer. Wie auch immer, die Umkleidekabiene war jetzt leer und Nancey begab sich zur Turnhalle. In der Halle wärmten sich die Schüler auf, sie hatten heute gemischt Sport und Ms. Leeny hatte immer besonders viel zu tun wenn Jungs dabei waren. Sie bat gerade alle um Ruhe als Nancey in die Sporthalle trat und die Tür hinter sich schloss. Manche warfen ihr einen verächlichtlichen Blick zu, die Nancey nicht störte oder nicht einmal bemerkt hatte.
Ms. Leeny drehte sich zu ihr um und fragte: «Wieder Probleme mit dem Spind?» Ihre schwarzen Haare waren zu einem ordentlichen Dutt zusammengebunden. Sie war eine sehr junge Lehrerin und wollte alles richtig machen. Nancey erhielt die Lüge aufrecht und meinte:«Ja, der war nicht auf zu kriegen.» Ms. Leeny war nicht blöd, sicherlich wusste sie, dass Nanceys Spind nicht ein Monat lang zufällig vor dem Sportunterricht klemmte. Aber bei Nancey drückte sie ein Auge zu, oder sogar beide Augen und dazu noch beide Ohren. «Nun, ich wäre froh wenn du dieses Problem aus der Welt schaffen könntest.» Meinte sie mit strengem Ton. Nancey stellte sich zu den Anderen und Ms. Leeny wandte sich zur Klasse: «Herrschaften heute will ich von jedem einen anständigen Handstand sehen, arbeitet sonst an den verschiedenen Kunststücken weiter und geht mintestens zu zweit zusammen.» Sie legte eine Pause ein und nickte Nancey zu «Zeig uns doch mal den Backhandspring.» Sie deutete auf die Matten, die neben ihr lagen. «Alles Klar.» Meinte Nancey. Energie strömte in ihre Gliedmassen, sie atmete tief ein und fühlte sich lebendig. Die andern Schüler beobachteten sie aufmerksam, einige rollten die Augen, weil sie sahen wie Nancey die Aufmerksamkeit genoss. Sie ging ein wenig in die Hocke, schwang dann ihre Arme nach hinten und sprang. Als sie wieder sicher auf dem Boden landete, sprang sie nochmals vom Boden ab und drehte sich in der Luft. Den Rest der Sportstunde verbrachte sie damit, ihren Klassenkameraden den Radschlag beizubringen. Einige stellten sich ganz gut an und Nancey konnte über die letzten paar wochen Fortschritte sehen. In den Sportstunden hatte sie den meisten Kontakt mit den Leuten ihres alters. Sie war in ihrem Element wenn Ms. Leeny Musik laufen liess, sie ihre fähigkeiten zur Schau stellen und den Andern helfen konnte. Dann vergass sie für einen kurzen Moment wie anders sie war.
In fast allen anderen Fächern war sie sehr gut. Das Thema musste nur ein System haben und nancey konnte es ergründen. Diese Fähigkeit bekam ihr vor allem in den Fächern wie; Mathematik, Chemie und Physik. Sprachen mochte sie auch einigermassen und sie interessierten sie auch aber für ihr Wesen waren sie zu willkürlich. Ihre Mutter hat meistens Englisch mit ihr gesprochen. Also konnte sie die Weltsprache sozusagen als ihre Muttersprache bezeichnen. Doch wusste sie nicht die Gründe dafür, denn Reyna kam ursprünglich aus Spanien und war zur hälfte Deutsch. Reynas Heimat war also Spanien, etwas das nancey verwehrt gebleiben ist. Zumindest für den Anfang ihres Lebens, denn sie hatte ja keine Ahnung was für eine drastische Wendung ihr das Leben noch zu bieten hatte. Es würde der Tag sein an dem sie ihre Herkunft erfahren würde.
Doch da sie noch nicht mal die enfernteste Ahnung hatte dass sie das bald erleben würde, hatte sie ein einziges Ziel, nämlich 18 Jahre alt zu werden, denn dann könnte sie frei in der Welt herumreisen, nach Verwandten suchen, unabhängig von ihrer Mutter die Welt kennenlernen und vielleicht irgendwo studieren. Das einzige Problem war, dass ihr dahin noch fünf lange Jahre bevorstanden. Und wieviel Schullektionen das waren wollte sie sich gar nicht vorstellen. Als sie den letzten Satz in ihr Notizbuch von der Tafel übertragen hatte und endlich gehen konnte, wobei es schon vor zwei Minuten geläutet hatte. Aber Lehrer hatten oft das Gefühl sich alles erlauben zu können und über das Ende ihres Unterrichts selbst richten zu können. Wie auch immer, Nancey war froh als der Unterricht vorbei war und sie nach Hause gehen konnte. Sie wohnten nicht weit vom Zentrum, mit dem Bus waren es nur 15 Minuten. Nun sass sie im Bus beobachtete die Leute. Ihre teilnahmslose Blicke, die im Bus herumirrten schienen Nanceys analysierende Augen nicht zu bemerken. Während die Besitzer dieser Blicke grösstenteils Musik hörten oder sich mit social Media die Zeit vertrieben, versuchte Nancey anhand der Bewegungen, Ausstrahlung und Mimik herauszufinden wer die Leute so waren, welche Namen sie wohl trugen oder welcher Arbeit sie nachgingen. Man konnte das als analythisches Denken oder Stalken deuten. Für beides hatte Nancey ein gewisses Talent. Sie wusste, dass sie aussergewöhnlich war, nicht nur weil sie gute Noten hatte und sportlich sehr begabt war. Irgendetwas tief in ihr wartete nur darauf zu erwachen. Und der Drang dies zu ergründen wurde immer stärker. Die Wände des Käfigs indem sie sich befand rückten immer näher und drohten ihr Feuer zu ersticken.
Ihr Apartment war in einem klassischen rotem Backstein Haus. Die Klingel leutete. Zweimal. Dann wurde die Tür aufgedrückt. Der Lift brachte sie in den fünften Stock. Geradeaus, dann links und sie stand vor ihrer Tür. Die Nummer des Appartments, die zwei Einsen und die Zwei reflektierten die Sonnenstrahlen die sich durch das Fenster in den Gang verloren. Das blendende Licht traf genau auf ihre Augen aber sie schloss diese nicht. Einen friedlichen Moment blieb sie reglos stehen, nur um dem Alltag ein paar Sekunden zu entfliehen. Es tat iht gut, sie konnte förmlich spüren wie ihre Batterien sich aufluden. Als sie sich wieder fasste, bemerkte sie wie ihre Handflächen einer heissen Herdplatte glichen. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln.
„Hallo Nancey, deck doch bitte den Tisch das Essen ist bald fertig." Reyna band ihre wiederspenstigen Haare zusammen, die einen aschigen braunen Farbton besassen und verschwand wieder in der Küche. Der Geschmack von Pizza hing angenehm in der Luft. Ihr Magen rebellierte und sie machte sich schnell daran Sets, Teller und Gläser aus dem Wandschrank auf den Tisch zu manövrieren. Wobei beinahe alles auf dem Boden gelandet wäre. Aus der Küche dröhnten die schon viel zu oft gehörten Charts-Lieder. Die Radiosender tyrannisierten ihre Zuhörer durchgehend damit.                    
Ihr Apartment war langweilig; dem schmalen Korridor grenzten zwei Schlafzimmer an, er endete in einer kleinen Stube in der sich der Esstisch und eine gemütliche Sitzreihe befanden. Die Küche war von der Grösse her auch eher begrenzt und die Herdplatten auf zwei Stück reduziert. Wie gesagt ein zimlich stinknormaler Wohnort. Doch auch wenn dieses Apartment nicht zu ihr passte, da sie nicht normal war, ein Freak war und auch wenn sie wusste, dass diese Tatsache sie eines Tages einholen würde, mochte sie diese Art von Normalität. Es Unverkomplizierte manchmal einiges und liess sie ihre herumschwirrende Gedanken für eine Zeit ruhen.
Die Pizze schmeckte köstlich, hier in England gab es nicht wirklich gutes Essen. Das meiste was sie in den Restaurants anboten war junkfood. Sowas wie burger oder fish an chips. Doch Renia pflegte es jeden mittag zumindest selbst zu kochen, am Abend bestellten sie sich oft was. Schweigen legte sich über den Tisch bis Renia ihre Tochter mit den üblichen ‚Wie war es in der Schule?'-Fragen angriff. Nancey überlegte kurz ob sie sie die unzähligen ungenügenden noten in Englisch-grammatik und Spanisch ihrer Mutter verheimlichen sollte aber zu welchem Zweck? Renia hatte nichts gegen sie in der Hand, nichts konnte sie Nancey verbieten was sie kümmern würde. Was hatte sie nur falsch gemacht? Die Ausdruckslose Art ihrer Tochter machte ihr manchmal angst. Sie hatte keine Chance ihre Miene zu deuten. So furchtbar fremd kam sie ihr in diesem Moment vor. Renia hielt den stechenden Blick Nanceys nicht mehr aus, sie wollte wegschauen, der Situation entfliehen. Doch die weissen Haare fingen Renias Blick wieder auf. Wie ein Blitz traf sie die Erkenntnis, das erste Mal, dass sie die so offensichtliche Tatsache bewusst wahrnahm. Und plötzlich sah sie ihn klar vor ihr, Renia sah ihn in den Augen ihrer Tochter. Wie ähnlich sie ihrem Vater doch war, nicht nur optisch sondern auch in ihrem Wesen. Wieso hatte sie das nie erkannt? Die bittere Wahrheit lag ihr wie ein schlechter Nachgeschmack auf der Zunge und fast hätte sie es laut ausgesprochen.

Eiskalt wie FeuerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt