Seitdem du weg bist

2 0 0
                                    

Hallo Oma,

erinnerst du dich an mich? Du fehlst mir unglaublich. Seit du weg bist bin ich ganz allein. Du hast mich einfach verlassen. Ich weiß, für dich war es besser, doch für mich war es das schlimmste überhaupt. Ich fühle mich wie in einem Loch. Ich bin gefangen in meinem eigenen Kopf. Es ist wieder schlimmer geworden. Die Alpträume, die Selbstzweifel, die Essprobleme. Davon habe ich dir nie erzählt. Ich wollte es dir sagen, doch es ging dir nicht gut und ich wollte dich nicht weiter belasten. Dir ging es so schlecht und ich dachte, meine Probleme sind dagegen nichts. Darmkrebs. Was ist das für ein Scheiß?! Als du die Diagnose bekommen hast hieß es, du hast noch ein halbes Jahr. Das war 2006. Damals habe ich davon überhaupt nichts mitbekommen. Wie auch, ich war ja erst sechs Jahre alt. Doch obwohl es so schlecht stand hast du gekämpft und weitere acht Jahre durchgehalten. Ich glaube ja du wusstest, dass ich dich noch brauchen werde. Opa hat immer gesagt, wenn du stirbst will er vor dir gehen. Das hat funktioniert. Wahrscheinlich wollte er dich nicht so leiden sehen. Ich wollte dich auch nicht leiden sehen. Doch es ging nicht anders.

Trotz deinen Schmerzen habe ich gemerkt, dass du dich bemühst mir nichts von deinem Leiden zu zeigen, doch ich habe es mitbekommen. Ich habe gesehen, wie du dich abgemüht hast und wie du immer dünner geworden bist. Ich habe gehört wie du immer schwerer geatmet hast, weil die Metastasen deine Lunge kaputt gemacht haben. Ich habe gefühlt, wie du immer kraftloser und deine Umarmungen immer schwächer wurden. Es war schrecklich.

Mama und Papa haben gesagt ich soll doch Zuhause bleiben und mich nicht mit deinem Anblick quälen. Sie haben gemerkt wie fertig ich immer war, nachdem ich dich besucht habe und wie ich abends geweint habe. Sie waren keine Hilfe. Ständig haben sie sich gestritten. Über dich und über Mamas Eltern. Ich weiß noch, irgendwann hat Papa gesagt: "Bald ist sie tot, dann brauchst du dich nicht mehr aufregen, dann kannst du dich freuen!"

Ich bin vom Tisch aufgestanden und gegangen. Ich kann nicht mit anhören wie jemand über deinen Tod redet. Noch heute ist es der pure Horror für mich.

Als ich vom Sommerlager wieder kam, warst du weg. Ich bin aus dem Bus gestiegen, habe Papa angeschaut und wusste sofort was los ist. Noch bevor ich sie erreicht habe habe ich angefangen zu weinen. Einerseits vor Erleichterung, dass du endlich nicht mehr leiden musst, dann  auch vor Trauer, weil du weg warst und als letztes vor Verzweiflung, weil ich wusste, jetzt habe ich keinen mehr, der meine Probleme versteht und mich unterstützt.


You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: Mar 06, 2018 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

Letters to grandmaWhere stories live. Discover now