"Von Liebe und Zuneigung"

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Hime erwachte mit unglaublichen Kopfschmerzen und stöhnte leise, als sie die Augen aufschlug, doch das Tageslicht, das ins Zimmer fiel, stach in ihrem Kopf. Sie fühlte sich wie nach einer besonders schlimmen Partynacht, mit Alkohol und anderen Drogen, allerdings hatte sie schon seit etwa einem Jahr an keiner solchen Feier mehr teilgenommen und daher schloss sie diese Möglichkeit nach kurzem Nachdenken aus.
Bin ich vielleicht ganz einfach krank?, fragte sie sich im nächsten Moment träge und drehte sich auf die Seite, versuchte, noch einmal einzuschlafen, um dem Unwohlsein, das ihren ganzen Körper erfasst hatte, wieder zu entgehen.
Doch da hörte sie eine Tür klappern.
Mutter?, dachte sie, noch immer vollkommen neben der Spur. Doch dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen und alles, was am vergangenen Tag passiert war, stand ihr wieder klar vor Augen. Ruckartig setzte sie sich auf und starrte Azusa an, der gerade in sein Zimmer zurückgekehrt war, woraufhin ihr Kopf erneut schmerzte, als hätte man eine glühende Eisenstange hindurchgejagt.
Der Junge erwiderte ihren Blick für einen Augenblick ein wenig unschlüssig, doch dann kam er mit wenigen Schritten näher, kniete sich zu ihr aufs Bett. „Sh …“, machte er beruhigend. „Es ist alles … gut.“ Er griff nach der großen Bettdecke und legte sie Hime bis über die Schultern, wickelte sie richtiggehend darin ein.
Erst da bemerkte Hime, dass sie noch immer größtenteils nackt war und so hielt sie die Bettdecke beschämt fest, legte ihren dröhnenden Kopf auf dem weichen Stoff ab. Aber es war nicht nur ihr Kopf, der sie schier umzubringen drohte, sie fühlte sich auch in jeder anderen Hinsicht wie von einer Dampfwalze überrollt. Sie fühlte sich schon wieder vollkommen ausgelaugt und auch dieses leichte Übelkeitsgefühl meldete sich in ihrer Magengegend.
Einzig und allein der Gedanke, dass es Azusa gewesen war, der ihr Blut getrunken hatte, ließ all das noch einigermaßen erträglich erscheinen.
Aber wie er es getrunken hatte …
Hime schluckte und presste die Bettdecke noch weiter an sich, als ob sie daran Halt finden wollte. Wie ein Tier, schoss es ihr durch den Kopf. Wie konnte es sein, dass er nicht mehr hatte aufhören können? War er wirklich so unberechenbar? Der Gedanke, dass er sie hätte töten können, behagte Hime gar nicht. Auf der anderen Seite … hat er es nicht getan. Aber ist das Glück gewesen oder wollte er das nicht? Sie schämte sich selbst für ihre Gedankengänge, mit denen sie Azusa unverhohlenes Misstrauen entgegenbrachte. Reden, dachte sie. Ich muss mit ihm reden.
Und so hob sie den Blick, sah Azusa, der sich noch nicht weiter gerührt hatte, an wie ein scheues Reh. „W-warum, Azusa-kun?“, wollte sie leise wissen und ihre Stimme bebte. Außerdem war sie kaum mehr als ein heiseres Krächzen, ihre Kehle war staubtrocken.
Sie zuckte erschrocken zusammen, als Azusa sich ihr plötzlich ohne jede Vorwarnung in Arme warf, sein Gesicht an ihrer Halsbeuge vergrub. „Es tut mir …leid, Hime“, brachte er voller Reue hervor. „Dein Blut war … mit einem Mal so … verlockend … Ich wusste nicht … dass es … so schwer sein würde, … dem … zu widerstehen.“
Einen Moment lang war Hime vollkommen perplex, blickte verwundert auf Azusas Rücken, doch dann schloss sie schnell ihre Arme um ihn, als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte.
Und mit einem Schlag verzieh sie ihm alles und schämte sich sogar dafür, an ihm gezweifelt zu haben, denn er klang über alle Maßen niedergeschlagen.
Vielleicht bin ich naiv, dachte Hime im Stillen, während sie Azusa sanft von sich drückte und ihm dann einen liebevollen, versöhnlichen Kuss gab. Vielleicht ist er gar nicht so, wie er zu sein scheint, vielleicht ist alles nur eine Farce, aber … Sie liebte ihn. Sie liebte ihn über alles. Innerhalb kurzer Zeit hatte er ihr Herz gewonnen und sie wollte ihn mit nichts mehr unglücklich machen. Sie wollte ihm vertrauen. Auch wenn das hieß, dass sie sich hoffnungslos in einem weiten, tiefschwarzen Ozean, in dem sie auf ihn angewiesen war, verlieren würde.
Aber das war bedeutungslos, denn in diesem Moment erwiderte Azusa ihren Kuss voll drängender Sanftheit, schloss seine Lippen um ihre und sie gab sich dieser berauschenden Gefühlswelle hin, ließ zu, dass er sie mit sich hinab zog.
Sie seufzte leise, als Azusa eine Hand in ihren Nacken legte und sie noch weiter zu sich zog und als er sanft mit dem Daumen über ihre Wirbel strich, vertiefte sie den Kuss gierig weiter, drang in seinen Mund ein und koste Azusas Lippen, seine Zunge, seinen Gaumen mit einer Hingabe, wie sie sie noch keinem anderen vor ihm hatte zukommen lassen.
Nun war es Azusa, der überrascht aufstöhnte, ein dunkler, rauer Laut, der Himes Herz noch schneller schlagen ließ. Und schon meldete sich das Verlangen zurück, doch als Hime ihre Hände unter Azusa Pullover fahren ließ, hielt er sie fest.
Er unterbrach den Kuss und lächelte sie sanft an. „Nicht jetzt“, sagte er bloß und kaum dass er diese Worte ausgesprochen hatte, klopfte es wie auf Kommando an der Tür.
Gleich darauf trat Noriko in Azusas Zimmer. Als sie sie beide so sah, ihn über ihrem Schoß kniend, hielt sie einen Moment inne, dann schüttelte sie missbilligend, aber dennoch grinsend, den Kopf. „Azusa-kun, ich habe dir doch gesagt, dass du Hime etwas zu trinken bringen sollst. Das ist jetzt sehr wichtig“, sagte sie belehrend und schloss die Tür hinter sich. In der Hand hielt sie eine Packung Tabletten, Eisenpräparate oder etwas in der Art, schätzte Hime. Noriko legte sie auf den Nachttisch neben dem Bett.
Trotz Norikos Worten schwand Azusas Lächeln nicht. „Hime war … etwas anderes … wichtiger“, meinte er unerwartet verschmitzt und gab ihr noch einmal einen kurzen Kuss, dann kletterte er vom Bett und ging an Noriko vorbei zur Tür.
Als er in den Flur gegangen war, seufzte Noriko. „Wir hätten euch warnen müssen“, sagte sie leise, ihre Worte klangen wie ein einziger Selbstvorwurf.
„Huh?“, machte Hime verwundert und rutschte mit dem Rücken an das Kopfende des Bettes, die Decke noch immer an ihre Brust gepresst.
Noriko kam zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. „Kou und ich, wir hätten euch sagen sollen, dass Azusa die Beherrschung verlieren würde.“ Sie lächelte ein wenig gequält. „Ich glaube, Emotionen spiegeln sich im Blut eines Menschen wider. Und es scheint, als wären die meisten Vampire ganz versessen auf Zuneigung und Liebe … Vor allem eben unsere.“
Hime musste grinsen, als Noriko das sagte. Unsere Vampire, wiederholte Hime im Kopf und je öfter sie sich das vorsagte, desto besser gefiel es ihr. Und auch das bisschen Unmut, das ihr wegen Azusas Unvermögen, sich zurückzuhalten, noch geblieben war, schwand, als sie Norikos Worte vernahm. Denn so betrachtet … war es wohl nichts weiter als ein sehr einprägsames und nicht ganz ungefährliches Liebesgeständnis.
Aber … Aber ich lebe noch, rief Hime sich ins Gedächtnis. Azusa-kun hat sich zurückgehalten … und er hat sich um mich gesorgt. Sie lächelte und ließ sich nun wieder ins Bett zurücksinken – wie immer war es eher kalt in Azusas Zimmer und dementsprechend fröstelte sie ein wenig.
„Soll … ich dir einen von meinen BHs leihen?“, fragte Noriko da plötzlich.
Hime sah sie entsetzt an, was Noriko nur mit einem vergnügten Grinsen quittierte.
„Sieht aus, als hättet ihr gestern Abend Spaß gehabt“, setzte sie vergnügt hinzu.
„Hm … nicht wirklich“, erwiderte Hime leise und spürte, dass sie knallrot anlief.
„Oh, das ist böse“, meinte Noriko, als sie verstand, was Hime meinte.
„Das ist so peinlich …“, jammerte Hime daraufhin nur und verbarg ihr Gesicht in der Decke.
„Das muss es nicht sein“, meinte Noriko ruhig. „Wir haben uns beide ziemlich komplizierte Kerle rausgepickt und ich werde die Letzte sein, die sich darüber lustig macht.“ Sie lächelte Hime freundlich an. „Aber wenn es gestern so zu Ende gegangen ist, ist es natürlich auch kein Wunder, dass Azusa so geknickt war.“ Sie lachte gutmütig. „Ich habe meine Sachen in Kous Zimmer deponiert. Ich hole dir kurz neue Unterwäsche, ja?“
Hime nickte schwach. „Danke“, sagte sie gequält. Als Noriko das Zimmer verlassen hatte, ließ sie sich Norikos Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Geknickt?, fragte sie sich. Hat er es … vielleicht selbst bedauert? Bei dem Gedanken musste sie sogar trotz der vollkommen dummen Situation erfreut grinsen. Vielleicht muss er sich einfach nur daran gewöhnen, überlegte sie und irgendwie fand sie den Gedanken sogar süß.
Als Azusa wieder zurückkam, in seiner Hand ein Glas Wasser, musste sie sich sehr anstrengen, ihr grenzdebiles Grinsen zu unterdrücken. „Danke“, sagte sie ehrlich, als sie das Wasser entgegennahm und dann schluckte sie auch die Eisentabletten, die Azusa für sie aus der Palette drückte. Außerdem gab er ihr eine Kopfschmerztablette, die auch der Übelkeit sowie Gliederschmerzen und ähnlichen Begleitbeschwerden entgegenwirken sollte.
Kurz darauf kehrte auch Noriko zurück, doch als sie sah, dass Hime bereits dabei war, die Medikamente zu nehmen, schüttelte sie erneut den Kopf. „Auf leeren Magen ist das Blödsinn“, sagte sie. „So kann dein Körper das alles überhaupt nicht verwerten.“
Hime sah sie erstaunt an. „Du klingst, als hättest du richtig Ahnung von so etwas“, meinte sie anerkennend. Ihr selbst lag Biologie ja dummerweise überhaupt nicht.
Noriko lächelte nur hintergründig. „Ich bin mit einem Vampir zusammen. Ich muss mich mit so etwas auskennen.“
Da stand Azusa wieder auf und nahm Hime das leere Glas ab. „Dann … gehe ich … jetzt etwas zu essen holen … ja?“, meinte er und legte Hime eine Hand auf die Stirn, strich ihr sanft durch die Haare. „Deine Temperatur ist … ziemlich hoch“, sagte er und klang so besorgt, dass Hime ganz warm ums Herz wurde.
„Das wird schon“, meinte Noriko nur zuversichtlich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gib ihr einfach genug Ruhe, dann wird sie sich sicherlich schnell erholen.“
„Na gut“, meinte Azusa und verließ dann schließlich das Zimmer.
„So schlimm fühle ich mich eigentlich gar nicht“, meinte Hime nun ein wenig verwundert zu Noriko. „Jetzt, wo ich was getrunken habe, geht es mir schon viel besser. Nur ein bisschen übel ist mir noch. Ich weiß nicht, ob ich jetzt wirklich was zu essen runterkriege“, fügte sie zweifelnd hinzu.
„Du solltest trotzdem etwas essen, glaub’ mir, danach geht es dir besser“, sagte Noriko und dann legte auch sie ihre Hand kurz auf Himes Stirn. „Du hast nur leicht erhöhte Temperatur, nichts Schlimmes. Du musst bedenken, dass Azusa und seine Brüder als Vampire eine deutlich niedrigere Körpertemperatur haben als wir.“
Hime sah Noriko überrascht an. „Und ich dachte, ich bilde mir das ein …“
Noriko schüttelte den Kopf. „Ich habe spaßeshalber einmal Kous Temperatur gemessen. Zwischen einundzwanzig und vierundzwanzig Grad. Da kommen wir Menschen ihnen mit unseren regulären sechsunddreißig Grad schon ziemlich warm vor, aber das sind sie gewohnt. Aber schon ein Grad mehr lässt uns auf sie wirken wie ein Hochofen.“ Noriko grinste.
Hime unterdessen musste daran denken, wie sie sich erschrocken hatte, als sie bei Azusa keinen Herzschlag hatte feststellen können. Ob es da einen Zusammenhang gab? Viel wichtiger jedoch erschien ihr mit einem Mal, wie begeistert Azusa von der Wärme, die sie abgab, gewesen war. Ja, von Anfang an hatte er betont, dass ihm ihre Körperwärme gefiel, ihre Umarmungen. Und Hime spürte, wie ihre Zuneigung zu ihm noch weiter wuchs.
„Gut, du solltest dich dann wohl mit dem Anziehen beeilen“, meinte Noriko da und reichte Hime ein kleines Bündel weißen Stoffes.
Hime nickte. „Danke für alles“, sagte sie ehrlich.
„Kein Problem“, erwiderte Noriko freundlich und ging zur Tür. „Gute Besserung“, sagte sie zum Abschied, dann verließ sie den Raum.
Kaum dass Noriko fort war, zog Hime den frischen BH an, und sogleich fühlte sie sich ein wenig wohler, auch wenn Norikos Unterwäsche ihr genau genommen zu klein war. Aber das sollte sie jetzt nicht stören. Ehe sie jedoch nach ihrer Kleidung Ausschau halten konnte, kehrte Azusa zurück und eilig zog Hime die Decke wieder über sich.
Was soll’s … mir ist jetzt eh nicht nach Aufstehen zumute, dachte sie und lächelte Azusa dankbar an, als er ihr ein Tablett mit vorwiegend roten Früchten reichte. All das kam ihr schon ziemlich Déjà-vu-verdächtig vor.
Aber auch jetzt waren Vitamine und Eisen vermutlich die wichtigsten Nährstoffe, die sie zu sich nehmen musste. Aber natürlich war auch Brot mit Marmelade und Wurst dabei sowie noch mehr tiefroter Preisel-und Johannisbeersaft, an den Noriko sich wohl oder übel würde gewöhnen müssen. Nach einigem Zögern begann sie zu essen und Noriko behielt Recht. Als sich ihr Magen langsam füllte, begann sie, sich besser zu fühlen.
Als Azusa sich zu Hime aufs Bett setzte, und sie beim Essen beobachtete, ging sie jedoch wieder dazu über, die Himbeeren und Kirschen mit Azusa zu teilen, und er ließ es zu, es war beinahe wie vor einigen Tagen, und wieder stellte sich in ihrem Inneren dieses konstante Glücksgefühl ein, sie liebte es einfach, ihn lächeln zu sehen.
Doch dann hielt er die Erdbeere, die sie ihm gerade zwischen die Lippen geschoben hatte, mit diesen fest und lehnte sich zu ihr, gab sie ihr in Verbindung mit einem liebevollen Kuss zurück. „Die sind … für dich … Hime“, sagte er und strich ihr wieder mit zwei Fingern über die Unterlippe, dann grinste er sogar, als er Himes dummes Gesicht sah.
Einen Moment war Hime durchaus verwirrt, doch dann lachte sie und verschluckte sich beinahe, hustete kurz, kaute, schluckte und nickte dann. „Okay, okay“, sagte sie und hob entwaffnend die Hände. „Wenn du so darauf bestehst …“ Sie nahm sich eine Himbeere und überlegte dann. Als sie aufsah, grinste sie verschmitzt. „Aber ich glaube, du musst mir dabei helfen“, sagte sie dann und wieder drückte sie die Frucht gegen Azusas Lippen, woraufhin er schließlich den Mund öffnete und sich auf das Spiel einließ.
Der nächste Kuss war noch süßer als alle vorangegangenen.
Als Hime ihr spätes Frühstück – es war schon Nachmittag, wie sie überrascht feststellen musste – beendet hatte, legte sie sich wieder zurück in Azusas Bett und schloss die Augen, genoss die Wärme und die Geborgenheit. Mittlerweile fühlte sie sich in Azusas Zimmer so sicher, als wäre es ihr wahres zu Hause. Doch ihr Glück fand seinen Höhepunkt, als Azusa sich zu ihr legte und sie in den Arm nahm, ihren Duft einatmete.
„Willst du … noch ein bisschen … schlafen?“, wollte er leise wissen.
Hime nickte. „Besser wäre es wohl“, erwiderte sie und schloss die Augen.
Tatsächlich schlief sie in seinen Armen noch einmal ein. Wach wurde sie wieder, als Azusa aus dem Bett aufstand. Die Sonne war gerade dabei, unterzugehen.
Es war Zeit, sich auf den Weg zur Schule zu machen.
Hime streckte sich und schwang dann die Beine aus dem Bett, stand auf und begann damit, sich wieder ihre Schuluniform anzuziehen.
„Bist du … sicher?“, fragte Azusa da verwundert. Er stand hinter ihr und trug ebenfalls die Jacke seiner Schuluniform und sah sie nun unschlüssig, ja, richtig besorgt an. Dass sie nun schon wieder aufstand, schien ihm nicht so richtig zu behagen.
Hime jedoch nickte entschlossen. „Es geht schon“, erklärte sie ihm. „Mir geht es gut.“ Sie lächelte ihn möglichst überzeugend an. Sie wollte nicht, dass er sich Sorgen um sie oder sich sogar Vorwürfe machte. Er trägt keine Schuld an seiner Blutgier.
Also machten sie sich wieder zu sechst auf den Weg zur Schule. Dort angekommen gab Hime Azusa einen kurzen Abschiedskuss und machte sich dann auf den Weg in ihr Klassenzimmer. Während des Unterrichts – und vor allem in der Zeit, in der kein Lehrer im Raum war – riss sie sich zusammen, um Raitos forschende Blicke zu ertragen. Dabei betete sie, dass er sie nicht ansprach oder ihr gar irgendwohin folgen würde.
Aber auf keinen Fall wollte sie sich noch einmal von ihrer Furcht beherrschen lassen.
Doch tatsächlich sah er davon ab, sie anzusprechen.
Nach Schulschluss traf sie sich wieder mit Azusa in der Eingangshalle und er bestand darauf, sie zur Bushaltestelle zu bringen, und er war so entschlossen, sie auf keinen Fall allein zu lassen, dass Hime deutlich ein freudiges Flattern in ihrer Bauchgegend spürte.
Der Weg zur Bushaltestelle war wie immer dunkel und steinig. Sicherlich hätte Hime auch den etwas gangbareren Weg nehmen können, aber das war ein großer Umweg und dann hätte sie möglicherweise ihren Bus verpasst. Darum schlug sie auch an diesem Tag diesen Trampelpfad ein, der recht steil zur wenig befahrenen Landstraße hinaufführte.
Sie erinnerte sich daran, wie sie diesen Weg zu Beginn ihrer Zeit an der Abendschule immer furchtbar unheimlich gefunden hatte. Am Anfang hatte sie immer eine Taschenlampe dabeigehabt. Später hatte sie sich daran gewöhnt und den Weg auch im Dunkeln gefunden.
Seitdem jedoch Kanato ihr am Rand der Straße aufgelauert hatte, war die Furcht zurückgekehrt. Und dieses Mal war sie alles andere als irrational. Doch zugleich war sie sich des Messers in ihrem Stiefel und vor allem Azusas Anwesenheit bewusst.
So würde ihr nichts passieren.
Sie ganze Zeit über hielt sie seine Hand und er half ihr den Weg hinauf, stützte sie, wenn sie das Gleichgewicht verlor. Es war beinahe peinlich, wie viel besser er mit dem Pfad zurechtkam als sie, und dabei hatte sie ihn zwei Jahre lang täglich benutzt.
Aber auf der anderen Seite war es schön, zu wissen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.
In jeder Hinsicht, immer.
Als sie an Himes Bushaltestelle ankamen, küssten sie sich lange und leidenschaftlich, bis schließlich die Scheinwerfer des herannahenden Busses sie unterbrachen.
„Gute Nacht, Azusa-kun“, sagte Hime und küsste ihn noch einmal kurz.
„Schlaf’ gut, Hime“, erwiderte Azusa und strich Hime liebevoll über die Wange, dann ließ er schließlich beinahe widerwillig ihre Hand los und wartete, bis sie eingestiegen war.
Hime lehnte glücklich den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe, nachdem sie sich auf einem der Sitze niedergelassen hatte. Bis Morgen, Azusa-kun, dachte sie im Stillen und eine leise Wehmut machte sich in ihrem Herzen breit. Sie wollte nicht von ihm getrennt sein. Nicht einmal für eine Nacht. Aber morgen schon sehen wir uns wieder.

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Bloody IncisionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt