Die Geisterschülerin

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Im Laufe meiner Jugend habe ich, eines nach dem Anderen, so viele Dinge über die Welt verstanden. Ob es nach und nach zu mir kam oder ob diese Erkenntnisse schicksalhaft schlagartig geplant waren, wie etwa von einer unbekannten höheren Macht, oder ob ich der einzige Mensch bin, der die Dinge so sieht, weiß ich nicht.

Ich mache mir viele Gedanken über das Denken. Endlich, nach diesen gefühlten Jahrhunderten in denen ich schon über die Erde wandere, verstehe, ich zu verstehen. Man versteht Politik, Biologie, Sprache, aber auch banale Dinge wie simple Tagesabläufe, freundschaftliche, familiäre und sexuelle Beziehungen, mehr als man aufzählen könnte habe ich schon begriffen. Wie unglaublich das nur sein muss, überlege ich, wenn ich erst einmal alt bin – wie viel ich dann wissen werde. Dieser Gedanke macht mich wirklich glücklich, und mein Herz klopft plötzlich sehr schnell, wenn ich davon träume, einmal alles verstehen zu können. Ich bin ja schließlich noch am Anfang meines Lebens, auch wenn es für mich noch schwer zu begreifen scheint. Bis jetzt war diese Jugend alles, was ich hatte. Viele Menschen heutzutage sehnen sich in diese Zeit zurück, zurück zum damals, wo alles noch perfekt war, und man keine Sorgen kannte. Manchmal, da denke ich, dass das sehr dumm von den Menschen ist, so etwas zu denken. Diese Einstellung, macht sie nicht eigentlich nur unsere Sorgen viel kleiner? Man zuckt mit den Schultern und sagt: „Du bist ja noch jung. Echtes Leid kennst du noch nicht." Aber trotzdem ist es doch für mich echtes Leid, wenn ich eine schlechte Note schreibe, mich sogar Lehrer auslachen, wenn ich ein totes Tier an der Straße oder eine Blume auf meinem Tisch auffinde. Unser Leid wird immer unter den Teppich gekehrt. Als seien wir keine Menschen, die Hilfe oder Mitleid verdient hätten. Auch das ist mir klar geworden. Und doch, und doch – wir können uns mehr in unseren Stoff lesen um bessere Zensuren zu bekommen, wir können selbstironisch über uns selbst mitlachen, Tote kann man begraben und ihnen die letzte Ehre erweisen – und Blumen verwelken schnell, wenn man ihnen kein Wasser gibt.

Die Tachimika-Oberstufenschule, eine Eliteschule mit privaten Trägern und hohen Studienkosten – sie thronte auf einem Hügel über der Stadt, nach der sie benannt worden war. Dieser Hügel war einer der Sorte, die eifrigen Kletterern schnell Beinschmerzen beschaffte, wenn sie sich noch nicht an seine sich langstreckende Steigung gewöhnt hatten. Tachimika - das liegt im südlichen Teil von Meguro, gerade so dass man Shibuya noch zu Fuß oder mit dem Bus erreichen kann – ist wirklich ein buntes Örtchen, dass stellt man gleich fest. Hier haben wir moderne Shoppingmeilen, aber auch den ein oder anderen Tempel, zwei Hochschulen, eine Mittelstufenschule und zwei Kindergärten. Die andere Oberschule, das ist die Suzumiya Taeko-Schule, benannt nach einer großen feministischen Autorin aus den 30ern. Da die Tachimika-Schule allerdings eine Eliteschule ist, kann man immer, wenn man vor den Toren der Taeko-Schule steht, Gerüchte und genervte Sprüche über die Schüler der Tachimika hören.

Es war Mai 2015, und das Schuljahr der Tachimika-Oberstufenschule hatte schon in all seiner pastell-rosa Blütenpracht begonnen. Vor ihren weiten Toren stand nun ein zierliches Mädchen und blickte empor – sie kniff ihre Augen ein wenig zusammen, um nicht von der reflektierten Morgensonne in den Fenstern geblendet zu werden. Dieses Mädchen hatte ein süßes Gesicht, und glatte kurze Haare, die sie versucht hatte sich mit einem Haarreif ordentlich nach hinten zu stecken; und doch stachen ihr an ihrer Stirn überall kleine Babysträhnchen ins Gesicht. Ihr Name war Hakugare Aomi. Aomi stand also bestimmt eine halbe Minute einfach da und starrte dem Schulgelände ins Angesicht, als würde sie erwarten, dass es zurück starrte. Schließlich schien sie doch zu ihren Sinnen gekommen zu sein, denn sie setzte sich in Bewegung und trat in den Eingangsbereich. Es war ein Dienstag, der fünfte Mai, und am vierten, also am Montag, hatte sie sich das Gebäude schon gut angeschaut und durfte nun ohne weiteres ihren Unterricht besuchen.
Das waren wirklich eigenartige Umstände, dass sie mitten im Schuljahr doch einen Platz bekommen hatte – im Frühling dieses Jahres wurde sie nicht angenommen, unter dem Vorwand, sie hätten keinen Platz mehr für weitere Schüler. Doch zwei Monate später kam überraschenderweise ein Schreiben, das besagte, dass sie nun doch auf die Tachimika-Schule wechseln könne. Doch Aomi hatte Besseres zu tun, als dies zu hinterfragen – gerade hatte sie die Hausschuhe angezogen, ihre Wertsachen in dem Spind verstaut und ging nun mit dem Schlüssel munter in ihrer Brusttasche klimpernd weiter in Richtung ihres Klassenraumes. Ein Blick auf ihre auf der Hand-Innenseite getragenen Armbanduhr verriet ihr, dass sie noch in etwa eine dreiviertel Stunde hatte bis zum Unterricht. Einen Moment hielt sie inne, als würde sie überlegen, was sie mit so viel Zeit anfangen sollte. Zuerst entschied Aomi sich dazu, sich in die Schul-eigene Bücherei zu setzen, um sich ungestört auf die ersten Unterrichtsstunden vorbereiten zu können.
Dafür musste Aomi allerdings in ein anderes Gebäude gehen – in das AG-Gebäude. Wie der Name eigentlich schon sehr deutlich sagte war es ein extra gelegenes Gebäude eigens für Nachmittags-AGs, allerdings befand sich die Bücherei der Schule auch darin. Aomi verfluchte sich also still, als sie flüchtig wieder ihre Schuhe anzog, und mit den Hausschuhen im Spind verriegelt ging sie wieder aus der Tür heraus, ging geradeaus, und dann nach einigen blühenden Kirschbäumen nach rechts, den Weg entlang zum Club-Gebäude. Sobald man die Tür hineinkam wurde man sofort mit einigem Gewusel begrüßt – ein Sportteam zog an Aomi vorbei, um das schöne Wetter und die verbleibende Zeit für morgendliches Training zu nutzen. Aus anderen Zimmern hörte Aomi lachen, schimpfen, erzählen, flüstern, und zu ihrer Verwunderung auch einige Explosionen aus der Chemie-AG. Den ersten Flur muss ich rechts, dachte sie sich, und fand sich bald schon vor der Tür der Schülerbücherei wieder. Sie öffnete die Tür nur einen Spalt breit, doch statt der von ihr erwarteten Stille wurde sie von Geschrei begrüßt.
Es war genau das Gegenteil von dem, was man rechtmäßig erwartet hätte – eine Gruppe von Schülern lief wie aufgescheuchte Hühner durch die Regale, und irgendetwas schienen sie verloren zu haben. Ohne einem weiteren Wort oder Gedanken schloss Aomi die Tür wieder und war nun etwas verärgert. Beschimpfungen vor sich hin murmelnd (natürlich nur angemessene) verließ das Mädchen das AG-Gebäude wieder und entschied sich dazu, doch im Klassenraum bis zum Unterrichtsbeginn zu warten. Von der Eingangshalle musste sie einen Stock nach oben, und dort dann nach links um zu ihrem neuen Klassenzimmer zu gelangen. Ihr Sitzplatz wurde ihr am Vortag schon gezeigt, es war leicht, sich das zu merken – ganz hinten in der Mitte. Auch wenn Aomi wegen ihrer Körpergröße und dem Enthusiasmus, den sie für den Unterricht hatte, gerne vorne sitzen würde. Doch all diese wirren Gedankengänge wurden unterbrochen als sie die Tür öffnete.
„W...was...?" Aomi wisperte es ganz leise, als wollte sie es sich selbst ins Ohr flüstern – der Tisch, der hinten in der Mitte des Raumes stand, war nicht leer. Es stand kein Stuhl an ihm,

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⏰ Last updated: Apr 04, 2018 ⏰

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Wenn es nicht verboten ist, wie sollen wir es dann brechen?Where stories live. Discover now