In nicht mehr all zu langer Zeit werde ich sterben, vielleicht auch schon morgen.
Deswegen packte ich mein nüchternes Leben an der Hand und ließ es nicht mehr wie nur ein schlotterndes Handtuch neben mir herziehen.
Auf den Bahnhof schlug die Uhr halb zwölf und ich stellte erschrocken fest, dass meine Armbanduhr zwei Minuten vorging. Sofort nahm ich sie von meinem dünnen Handgelenk ab und stellte sie richtig ein. Nichts war schlimmer als eine Uhr zu haben, die falsch ging. Als ich fertig war und wieder zufrieden auf die Bahnhofsuhr schaute, fragte ich mich inwiefern sie überhaupt als richtige Zeitvorlage dienen konnte. Was wenn meine doch richtig ging? War das hier überhaupt eine Funkuhr? Welche Zeit ist zur Zeit die richtige?
Nach einem 10minütigen Dilemma mit mir und meinen eigenen Gedanken, tippte mir jemand grob an meine Schulter. Ich beschloss, dass zeit für mich keine Rolle mehr spielte, bevor ich mich zu den groben Finger umdrehte.
Mir blickte ein rundes, weibliches Gesicht entgegen, welches ebenso weibliche Rundungen am restlichen Körper aufwies. Sie hatte ein enges blaues Kostüm an und kaute demonstrativ Kaugummi.
„Haben Sie eine Fahrkarte, Herr?"
Ihre kleinen Augen funkelten mich trügerisch an.
„Ein Ticket", wiederholte ich und kramte in meiner kleinen braunen Umhängetasche umher.
„Ein Ticket ist eine Fahrkarte, ja".
„Das war doch keine richtige Frage", sagte ich und zwinkerte ihr zu. Ihr Blick verfinsterte sich. „Haben sie's oder nicht?"
„Ja, ja, das Ticket", ich zog es aus meiner Tasche hervor und ich muss wohl ziemlich hektisch gewesen sein, denn mit dem Ticket fiel auch meine Pastillendose heraus. Die kleinen blauen Pillen verstreuten sich über den gesamten Bahnhof. Traurig musste ich feststellen, dass sich auch welche zu den Schienen verirrt haben. Während ich das ganze Spektakel schon fast etwas wehleidig begutachtete, riss mir die Bahnfrau grob das Ticket aus der Hand und nickte leicht.
„Alles Jute", sie drückte mir das Ticket wieder in die Hand und balancierte den Pillen ausweichend weiter den Bahnsteig zum nächsten Wartenden entlang.
Immer noch erstarrt über meine Pillen, die ich Zuhause gut abgezählt und bedacht eingepackt hatte, stand ich alleine inmitten eines blauen Meeres und drohte zu ertrinken. Aus den Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr und zuckte zusammen, als mich wieder jemand anredete.
„Ganz schön undankbar, die Ziege, was?", kicherte eine Frau mittleren Alters, die eine Jeans und ein lockeres gelbes T-Shirt trug. Ihre dunklen Locken umrahmten ihr kantiges Gesicht ein. Ich antworte nicht. Ich war dabei meine Tränen zu unterdrücken und meine Gedanken zu bändigen, die nicht mit den ganzen Chaos auf dem Boden klar kamen.
„Ich helfe Ihnen, die Pillen einzusammeln", die Frau bückte sich ohne auf ein Kommentar von mir zu warten, nahm die kleine Dose und fing an die Pillen in näherer Umgebung einzusammeln.
„Das können Sie nicht tun!", ich bückte mich ebenfalls und wollte ihr die Dose aus der Hand reißen, entschied mich aber dagegen, weil ich es plötzlich mit der Angst zu tun bekam. Die Frau hielt in der Bewegung inne und schaute mich prüfend an. Ich merkte wie sich Schweißtropfen auf meiner Stirn bildeten und langsam abperlten. Der erste tropfte schon auf den kalten grauen Bahnhofsboden.
"Sie müssen sie zählen!", ich merkte, dass sie mich immer noch begutachtete und so fügte ich hastig hinzu, "Bitte!"
„Nun gut", sie rümpfte die Nase, bevor sie die bereits eingefüllten Pillen in ihre Handfläche übertrug und anfing laut die einzelnen Pillen zu zählen.
„Eins, zwei, drei,..."
Nach ein paar Minuten standen wir uns wieder aufrecht gegenüber und sie überreichte mir die Pastillendose.
„Wohin soll's gehen?"
„Weiß ich nicht."
„Sie wissen es nicht?"
„Nein."
„Das steht doch auf den Ticket, geben sie mal her", sie riss mir genauso wie die Bahnhofsfrau zuvor mein Ticket aus der Hand.
„Bis ans Ende der Stadt....ganz schön weit", murmelte sie, „Sie wollen doch nicht etwa flüchten?", sie lächelte zaghaft und hielt mir das Ticket wieder hin. Dankend nahm ich das Ticket und stopfte es wieder in meine Tasche. Ich wollte gerade ansetzen und sagen, dass ich natürlich nicht flüchten wollte – das würde so gar nicht zu mir passen - , sondern das ich eigentlich nur endlos fahren wollte – irgendwo hin, einfach in den Zug einsteigen und nie wieder aussteigen - , als die Erde anfing zu beben. Ich quiekte laut und riss erschrocken meine Augen auf. Die Frau lachte über mich, was ich gar nicht charmant fand, und deute nur mit den Zeigefinger hinter mich. Ich drehte mich schnell um und sah ein großes Monster auf mich zu Rollen, was mit jeden näheren Zentimeter langsamer wurde.
„Das ist der Zug, mein Herr", sie lächelte nochmal bevor sie sich von mir entfernte um ihren Koffer zu holen. Beschämt stand ich auf den Bahnsteig und wusste nicht was ich tun oder wohin ich gucken sollte. Zischend blieb der Zug stehen und genauso zischend öffneten sich die Türe. Eine geheimnisvolle Stimme bat uns einzusteigen. Und da ich mich nicht gern überkommenden Stimmen widersetzte, stieg ich ein.