1. Kapitel

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Goldafurth bei Nacht war schon ein Anblick, der sich sehen lassen konnte. Das rege Markttreiben auf dem Burgplatz war erstorben, doch ganz still war es in der Hafenstadt nie. Gedämpfte Gespräche und Musik war zu hören, die Haupstraßen und viele Fenster waren noch hell erleuchtet. In der großen Burg aus hellem Kalkgestein wurde ein Fest gefeiert, und am Hafen tranken und würfelten schlaflose Matrosen miteinander. In den teureren Läden waren Kerzen und Petroleumlampen entzündet, um die Ware auch jetzt noch zur Schau zu stellen. Soldaten der Stadtwache patrouillierten, um die Sicherheit der Bürger zu wahren.
Besonders die Burg und die schönen Herrenhäuser waren hell beleuchtet, was sie fast noch prunkvoller wirken ließ als bei Tag, wenn der warne Schein der Laternen die weißen Wände in Gold und die Ziegeldächer in Kupfer verwandelte.
Eine kühle Brise zog vom Wasser herauf, vertrieb den Nebel und ließ einen weit auf das ruhige, finsterblaue Meer hinausschauen, in dessen Wellen das Sternenlicht glitzerte.

Doch genug des romantischen Geschwafels. Unsere Geschichte beginnt in einer wesentlich weniger prachtvollen Gegend Goldafurths: Die Ebenholzgasse.
Früher einmal war die Ebenholzgasse die schönste und bedeutendste Straße in Goldafurth gewesen. Hier hatten die reichsten Männer gelebt: Großgrundbesitzer, Stadtverwalter, erfolgreiche Kaufleute, Richter und all die anderen, die sich den Luxus leisten konnten. Die Häuser waren weiß gestrichen, hatten teure Schilder, meisterhaft verzierte Türen und Dächer aus den besten Ziegeln, gebrannt von den Bewohnern der Lehmbucht. Gestützt wurden sie von Balken aus echtem Ebenholz, Walnussholz und Holz vom Schieferbaum aus dem Jagodawald, das mittlerweile aufgrund der Feindseligkeit des dort lebenden Stammes einen unschätzbaren Wert hatte. Die Gasthäuser der Ebenholzgasse wurden vin Reichen besucht und servierten nur den edelsten Ginstertraubenwein und das saftigste Wildfleisch.
Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Als die Stadt wuchs und die Burg und der Hafen an Bedeutung gewannen, verlor die Ebenholzgasse zusehends an Ansehen. Die wichtigen Personen zogen näher an den Markt, die Anlegestellen und den Burghof, und ihre alten Häuser verfielen. Der einstige Reichtum geriet langsam in Vergessenheit. Die weiße Farbe bröckelte ab, die goldenen Schilder wurden gestohlen und das Holz verblich, ohne Pflege der Witterung ausgesetzt.
Schreie und Gegröle tönten aus der Finsternis, begleitet von gedämpften Kneipengeräuschen und dem Gebrabbel eines betrunkenen Nachtwächters, der es gerade noch schaffte, jede dritte Laterne zu entzünden - von denen, die nicht ohnehin fehlten oder zerbrochen waren. Der Nachtwächter brummte ein Lied vor sich hin, kannte aber scheinbar nur die ersten vier Zeilen davon, die sich immer wiederholten.
Schließlich gab er es auf und betrat eine der Kneipen, eine besonders zwielichtige Bruchbude: 'Der gestohlene Kelch'.
Der Kelch war wahrscheinlich eine der übelsten Absteigen in ganz Goldafurth. Hier tranken lautet Gestalten miteinander, denen man lieber nicht begegnen wollte, wenn man nicht selbst eine davon war: Mörder, Diebe, Spione und Betrüger - um nur einige Beispiele zu nennen.

Das heißt, eher fiel der Nachwächter hinein, denn er schaffte es kaum noch, nach dem Griff zu fassen. Drinnen schenkte ihn kaum jemand Beachtung. Die wenigen Gäste, die noch hier waren, waren entweder besoffen, schliefen oder waren in ihren eigenen stillen Gedanken und Gespräche vertieft. Der Wirt schaute desinteressiert drein und putzte Krüge mit einem schmutzigen Lumpen. Der Nachtwächter, ein stämmiger Zwerg, rappelte sich langsam auf und rümpfte die Hakennase. Es stank nach abgestandenem, billigem Bier und Spülwasser, was selbst auf Zwergennasen eine abstoßende Wirkung hatte. Er schlurfte an einen Tisch und fiel dort um, wo er bis zum nächsten Morgen seinen Rausch ausschlief. Nur gedämpft hörte er noch den gegrölten Satz:
"Wirt, füll mir noch ein Krug!"

In der hintersten, dunkelsten Ecke des gestohlenen Kelchs saßen zwei Gestalten an einem Tisch. Der eine war ein großer, muskulöser Kerl mit grimmigem Blick, der sichtlich angetrunken war. Er trug einfache, zerissene Kleider, sein Glatzkopf war von Narben gezeichnet. Hin und wieder beschimpfte er sein Gegenüber und den Wirt, der sich mit seinem Getränk viel zu viel Zeit ließ. Ein unangenehmer Geselle, der schon oft Probleme in der Ebenholzgasse gemacht hatte. Sein Name war Torick.
Auf der anderen Seite des Tisches saß eine wesentlich kleinere, stillere Person. Sein Gesicht war von zerrissenen Tüchern bedeckt und er war in ebenso rissige, dreckige und viel zu weite Lumpen gekleidet. Seine Augen lagen im Schatten, nur der Glanz des sich darin spiegelnden Zwielichts ließ erahnen, dass er überhaupt welche hatte. Aufgrund seiner Größe würde ein Beobachter, der nicht in der Vielfalt der Lebewesen Morashtalas und Umgebung bewandert war, denken, er sei ein Zwerg. Doch wenn man die typischen äußeren Eigenschaften der Zwerge kannte, stellte sich dies schnell als Irrtum heraus. Der Körper des Kerls war schmal und drahtig, und die Haarsträhnen, die aus seiner ungeordneten Kopfbedeckung hervorhingen, waren dünn und von dunkler Färbung. Näheres ließ sich aufgrund des spärlichen Lichts und seiner Vermummung nicht erkennen.
Der Wirt, ein hagerer, älterer Mensch, kam auf den Tisch zugewackelt, den Krug in der Hand. Sein Haar war schütter und grau, das linke Auge  (oder zumindest die Stelle, an der es einst gewesen sein musste) war unsauber mit einem braunen Leinentuch verdeckt. Mit einem unverständlichen Gebrummel stellte er das Bier auf dem Tisch und entfernte sich rasch wieder.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 11, 2018 ⏰

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