Morgen mach ich rüber

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Fast geräuschlos glitt die letzte S-Bahn aus dem Bahnhof Friedrichstraße. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter kleiner wurden. Die gelben Neonlichter erloschen; nur eine kleine Schreibtischlampe funkelte hinter der verrußten Fensterscheibe des Dienstgebäudes.

Wolfgang setzte seine Dienstmütze auf, glättete die Falten seiner Uniform und betrat den Bahnsteig. Über der Westausfahrt standen auf einem schmalen Metallsteg zwei Grenzpolizisten. Die Luft im Bahnhof war zu einem feuchtwarmen Klumpen zusammengedrückt, und trieb ihm den Schweiß unter der Mütze hervor.
Plötzlich sah er die Glut einer Zigarette im Dunkeln aufglühen.
„Heute fährt kein Zug mehr", sagte Wolfgang, bereute jedoch sofort seine schroffe Anweisung. Insgeheim hoffte er dass der Fremde nicht dem allmächtigen Staatssicherheitsdienst angehörte.
Unsicher trat er auf den Mann zu. Erleichtert sah er auf den Nadelstreifenanzug, der ihn als Besucher des Klassenfeindes auswies.
„Guten Abend Wolfgang."
„Du!" Der Bahnhofwärter zuckte zurück um dann mit drei Schritten die Distanz zu seinem Bruder zu überbrücken. Wütend packte er in am Revers und drückte ihn an die Tür des Warteraumes.
„Bist du wahnsinnig!" Wolfgang schob seinen Bruder zur Seite und öffnete die Tür, schnappte ihn am Arm und zog ihn in den Warteraum. „Wo warst du?"
Sein Bruder riss sich los und lies sich auf die Holzbank fallen. „Komm mit rüber in den Westen, so lange es noch Zeit ist.!
„Du warst die letzten Jahre im Westen!" Wolfgang schnappte nach Luft. „Du hast Mutter und mich für die sitzen gelassen."
„Bernd mein Bruder ein Vaterlandsverräter." Schnaufte er höhnisch. Ein, in der Vergangenheit gelassener Schmerz holte ihn ein und kramte eine Erinnerung hervor, die sich wie brennender Spiritus um sein Herz legte.

Die alte Kneipe am Brenzlauer Berg öffnete noch einmal ihre Tür. Abgestandener Bierdunst vermischte sich mit dem kalten Zigarettenrauch russischer Machorkas. Ein Radio plärrte Kampflieder der Partei und verbarg gnädig die ohnehin gedämpften Gespräche der Gäste vor der Staatsmacht.
Bernd lehnte an der Theke.
„Die Reichsbahn hat mich wieder eingestellt." Wolfgang nippte an seinem Bier. „Und du?"
„Läuft noch. Muss Morgen deshalb für einige Tage weg", erklärte Bernd.
„Na ja, macht nichts. Mit Mutters Rente und meinen Geld kommen wir gut über die Runden."
„Unser Land lässt seine Bürger nicht im Stich", mischte sich der Wirt ein und stellte zwei Gläser frisch gezapftes Bier vor die Brüder.
„Wohin willst du?", doch Bernd schwieg und schaute auf die Uhr hinter der Theke.
„Ich muss los", verabschiedete er sich von seinem Bruder.

„Wo warst du in den letzten zehn Jahren?" Wolfgangs Stimme war eher flehend als vorwurfsvoll.
Bernd setzte zum Sprechen an, rang nach Fassung und versuchte es erneut.
Wolfgang schaute auf seine Taschenuhr. „Bleib sitzen, ich muss raus. Gleich fährt der Interzonenzug nach München hier durch. Auf dem Bahnsteig wimmelt es von Grepos, musst denen ja nicht vor die Flinte laufen."
„Es war Vaters Uhr", Bernd lächelte.
Wolfgang stand auf, schritt zur Tür, öffnete sie einen Spalt und schaute hinaus; erst danach verließ er den Raum.
Der herannahende Zug stieß ein stampfendes Geräusch vor sich her, dröhnte plötzlich durch den Bahnhof und war ebenso schnell verschwunden wie er aufgetaucht war. Doch Wolfgang tauchte nicht auf.
Bernd hielt es nicht länger auf der Bank. Unruhig schlich er zur Tür, legte sein rectes Ohr an das Holz und hielt den Atem an. Er vermeinte das stechende Geräusch von Militärstiefeln zu hören. Die Luft war beißend. Jeden Augenblick musste der Schrie seines Bruders über den Bahnsteig hallen um ihn zu warnen. Jetzt machte er sich Vorwürfe, das überhaupt hierher gekommen war.
Die Scharniere quietschten als Wolfgang wieder hereinkam. „Ich musste nur noch das Tor zur Straße abschließen", sagte er. „Es ist Mitternacht, vier Stunden hast du Zeit, mir das alles zu erklären."
„Bei unserem letzten Gespräch in der Kneipe hatte ich schon einen Job", begann Bernd.
„Weshalb hast du es mir nicht gesagt?"
„Ging nicht. Ich hatte den Auftrag nach Westberlin zu gehen, Wilhelm zu suchen und in die DDR zurückzubringen"
„Wilhelm? Hat er nicht Vater an die Faschisten verraten, die ihn dann zwei Tage vor Kriegsende gehängt haben."
„Das dachte ich auch, deshalb nahm ich den Job an." Bernd lachte. „Job! Kundschafter des Friedens, nannte die Stasi es."
„Falscher Ausweis als Journalist, Wohnung, Auto, Bargeld. Alles war perfekt vorbereitet."
„Und hast du ihn gefunden?"
„Zuerst nicht! Etwas Bestechung, da ein bisschen Erpressung und eine gehörige Portion Geduld. Ein halbes Jahr später hatte ich ihn."
„Mein Bruder bei der Stasi, starker Tobak."
„Ich wartete nur noch auf einen günstigen Zeitpunkt und der kam drei Tage nach Neujahr." Bernd zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort.
„Wilhelm war auf dem Weg nach Hause. Kurz vor seiner Wohnung rutschte er auf einem abgebrannten Feuerwerkskörper aus. Ich eilte hinzu und half ihm auf die Beine. Wilhelm konnte nicht mehr auftreten; ich fahr sie ins Krankenhaus, sagte ich."
Er hat dich nicht erkannt?"
„Zuerst nicht." Bernd blickte nach oben als erwartete er, das dass auf der rissigen Decke ein schwarz-weiß Film der vergangenen Jahre aufleuchtete.

„Der Patient ist wach." Bernd setzte sich auf und wollte nach der Stimme greifen. Ihm war diese tauche die Stimme mit Luftblasen aus einem See hervor.
„Bernd!" Vor ihm saß Wilhelm.
„Wird auch Zeit", lächelte er. „Hast lange genug geschlafen."
„Was ist passiert? Wie lange"
„Du hattest eine Unfall, kurz vor der Sektorengrenze und vier Wochen."
„Du weißt!"
„Alles nicht", erwiderte Wilhelm. „Warum wolltest du mich in den Ostsektor verschleppen?"
„Du hast Vater verraten, an die Nazis!" Bernd versuchte nach Wilhelm zu greifen, fiel jedoch kraftlos wieder zurück.
„Wilhelm schaute lange aus dem Fenster.
„Ich verstehe." er drehte sich wieder Bernd zu.
„Was ist mit der Polizei. Die im Westen sind nicht zimperlich wenn ..."
„Jetzt wird erst einmal gesund, dann reden wir über alles." Wilhelm stand auf, nahm seinen Hut zog den Mantel an und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. „Ich habe nichts erzählt."

„Und wurdest du verhaftet?"
„Nein, Wilhelm besuchte mich jeden Tag."
„Hat er dich erpresst?"
„Nichts dergleichen. Er erzählte von Vater und der Zeit vor dem Krieg. Über die Entführung sprach er kein Wort." Bernd schaute wieder nach oben.
„Es war zwei Tage nach Ostern; ich an dem Tag entlassen werden, da kam Wilhelm mit einem Päcken in der Hand herein und setzte sich an mein Bett."

„Wir sehen uns heute zum letzten Mal. Hier das ist von deinem Vater."
Bernd blickte fassungslos abwechselnd auf das Päcken und Wilhelm.
„Aber ich wollte dich ..."
„Lass gut sein. Du kannst nichts dafür. Sie haben dich missbraucht, wie so viele vor dir. Wer nicht spurte wurde verhaftet." Wilhelm schaute traurig aus dem Fenster und seufzte."
„Scharenweise sind einfach verschwunden; in den Weiten der Sowjetunion, nach dem Westen oder nach Bautzen in den Knast." Wilhelm strich sich mit zitternden Händen über die Stirn. „Viele wussten zu viel, manche hatten den falschen Beruf, sie mussten für die Russen arbeiten. Es reicht, Bernd! Ich wandere aus in meine Heimat. Ich möchte von diesem Europa nichts mehr wissen. Es waren zu viele, die ich nicht wiedergesehen habe, zu viele."
„Keine Angst, ich habe denen hier nichts gesagt. Ich mag das Deutschtum nicht und die Welt mag euch auch nicht, egal welcher Staat von euch wie heißt. Dort sind die roten Braunen", er zeigte nach Osten „und hier die schwarzen Braunen. Beide überbieten sich wer dem Sieger tiefer in den Arsch kriechen kann."
„Aber die DDR ist der zuverlässigste Freund Stalins"; verteidigte Bernd seinen Staat.
„Stimmt und die BRD, der Zuverlässigste der Amis. Deshalb sind es noch lange keine Freunde. Ihr werdet gebraucht, mehr nicht."
„Eines Tages werden wir wieder ein Land sein unter der Herrschaft des ..."
„Des Geldes", vollendete Wilhelm den Satz. „Ja! Eines Tages, wenn die Sieger sich ihre Vasallen nicht mehr leisten können, dann werdet ihr wieder vereint sein, dann könnt ihr auch vereint bezahlen bis ans Ende eures Daseins. „Dann dürft ihr nur eure Pflicht tun."
Wilhelm erhob sich und reichte ihm die Hand zum Abschied.
„Alles was du wissen solltest ist in dem Päcken. Lies es und bilde dir deine eigenes Urteil."
„Schalom, Sohn meines Freundes."
Bernd schaute Wilhelm nach, obwohl er schon lange verschwunden war. Langsam packte er seine Sachen und verließ das Krankenhaus.

„Und was war drin?"
„Wilhelm und Vater wollten nicht für die Russen arbeiten. Sie brauchten sie für die Rüstungsindustrie. Vater hat Wilhelm zur Flucht verholfen und Stasi hat ihn dafür umgebracht."
„Das ist doch kein Grund", entrüstete sich Wolfgang.
„Doch Vater war Christ und Wilhelm ist Jude, beide wären nicht mehr zurückgekommen."
„Der Brief kann gefälscht sein!", versuchte Wolfgang sich zu beruhigen.
„War er nicht, es ist Vaters Handschrift und der Marschbefehl für die beiden ist auch dabei."

„Was bist du jetzt? Für Die oder für ... hier.
„Weder noch", erwiderte Bernd. „Ich war am Boden zerstört. Das für das Land hätte ich mein Leben gegeben; es hat mich benutzt. Doch in dem Päckchen war noch etwas, Vaters Bibel." Bernd schlug die Bibel auf.
„Für Bernd meinem Sohn", las er vor. „Wenn du dies liest bin ich nicht mehr am Leben, ich kann dir nicht mehr helfen. Doch wenn du nicht weiter weißt, lies darin. Es wird dir genau so weiterhelfen wie mir."
Einige Stellen waren unterstrichen." Bernd blätterte weiter. „Hier", und zeigte auf eine Stelle.
„Wohin soll ich sonst gehen", las Wolfgang.
„Ich bin Christ geworden, das lässt mich das alles hier ertragen."
„Komm mit rüber", flehte Bernd seinen Bruder an.
„Heute ist Mutters Todestag, ich muss zum Grab", wich Wolfgang aus. Die Brüder hingen jeder ihren Gedanken nach.
„Du musst gehen", unterbrach Wolfgang die Stille.
Vorsichtig gingen Sie die Treppe hinunter. Wolfgang öffnete das Gitter zu Straße und schaute hinaus. „Verschwinde."
„Komm bald, morgen ist es vielleicht zu spät", drehte sich um lief die die Straße hinunter. Wolfgang schaute wortlos seinem Bruder hinterher und eilte dann die Treppe nach oben und setzte sich an den Schreibtisch im Dienstgebäude.
„Keine besonderen Vorkommnisse", schrieb er in das Dienstbuch und unterzeichnete. „Sonntag der dreizehnte August 1961."
„Morgen mach ich rüber", versprach er sich leise.

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⏰ Last updated: Apr 18, 2018 ⏰

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