Ich habe sie umgebracht. Ich bin schuld an ihrem Tod. Fast automatisch winke ich dem zum Glück nicht allzu beschäftigten Barkeeper zu. Ich brauche mehr Alkohol. Ohne ihn halte ich es nicht aus. Meine Fingerspitzen berühren das kalte, volle Glas. Alles fühlt sich so benebelt an, dank des Gins. Die harte Realität wäre zu viel für mich. Aus der Tür, die zum Hauptsaal führt, dringt gedämpft klassische Musik. Irgendwo da drinnen denkt meine Mutter, der Anruf wäre von einer Freundin gewesen, bei der ich jetzt bin. Lüge. Wenn es nur so wäre. Denn der Anruf war nicht von einer Freundin sondern über meine "Ex"- BF. Bei der bin ich jetzt aus einem Grund nicht: Sie ist von einer Brücke gesprungen. Und das ist unter anderem meine Schuld. Mit verkrampften Fingern führe ich das Glas zu meinem Mund. Der eiskalte Gin, noch kälter als das Glas, fließt meine Kehle herunter. Es tut so gut. Mein Blick schweift durch die Bar, welche zum Hotel gehört, in welches meine Mutter und ich eingeladen wurden. Jedoch sehe ich wegen dem Alkohol leicht verschwommen. Neben mir unterhalten sich zwei Frauen in einer anklagenden Tonlage. Anscheinend wurde die eine von einem Mann betrogen. Hach ja, was für einen Schmerz Liebe doch bereiten kann. Früher habe ich gedacht, besser mit einem Freund den du nicht liebst, als ohne Begleitung. Das hat zu vielen unglücklichen Beziehungen geführt, und am Ende stand ich dann doch ohne Partner da. "Du musst ein süßes tollpatschiges Mädchen sein und dir deinen Bad Boy, arrogant und selbstgefällig, finden. Dann eroberst du sein Herz und du hast deine perfekte Liebesgeschichte. Warum versuchst du das nicht mal aus? Dann musst du nicht rumheulen weil du keine Begleitung zu meiner Party hast." Das hat mir mal irgendjemand gesagt. Zuerst wollte ich mich verstellen, um mich dieser Regel anzupassen, wirklich. Aber ich habe es bald aufgegeben. Das liegt daran, das ich weder süß noch tollpatschig bin und sowieso nicht das typische Mädchen. Plötzlich fällt mit ein, von wem das Zitat stammt. Von Claire. Die sich selber umgebracht hat. Ich nehme noch einen Schluck. Irgendwie habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Als ich meinen Kopf nach links drehe, sehe ich auch warum. Grüne Augen, die zu einem Jungen in meinem Alter gehören, starren mich belustigt an. Der Mund meines Stalkers ist zu einem amüsierten Grinsen verzogen. Was denkt er sich eigentlich? Mit einem Brummen wende ich mich wieder meinem Glas zu. Schon wieder leer.
Es ist so kalt. Alles dreht sich und ich erkenne nur verschiedene Grautöne. Manchmal schwarz oder auch rot. Au, mein Kopf. Warum tut er weh? Wahrscheinlich habe ich mich an irgendwas gestoßen. Es ist immer noch kalt. Ich muss mich an etwas ankuscheln, dann wird mir wärmer, hat man in der Schule immer gesagt. Doch momentan fällt mir nur der Boden ein. Erst jetzt bemerke ich, dass ich mich ihm schon nähere. Schneller, als mir lieb ist. Stopp! Bitte! Ich will mir nicht wieder weh tun. Als ich auf dem kalten Asphalt aufstoße, schreit mein ganzer Körper. Aufschreiend versuche ich mich aufzurichten, aber es klappt nicht.
Was habe ich dem Boden denn getan, das er mir so sehr weh tut? Nach einiger Zeit überfällt mich die Müdigkeit und ich schlafe mitten auf dem Bürgersteig ein.