Endstation?

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Bäume, Gebäude, Rauchschwaden, Dunkelheit. Als er wieder erwachte, erschrak er. Eingeschlafen war er noch nie in einem Zug, doch die letzten Tage lasteten schwer auf ihm. Er sah sich um. Der Zug hatte sich gefüllt, er musste mehrere Stationen verschlafen haben, denn in seinem Abteil waren selbst die Stehplätze schon belegt.

Viele Gesichter, alle grimmig, gezeichnet und stumm. Obgleich der Raum zum bersten gefüllt war, hing eine unheimliche Stille über der Menschenmenge, die Zeit schien gefroren, verlangsamt, eingeschlossen in Watte, trotz der 300 km/h, die der Zug fuhr. Ein seltsamer Moment, der nicht zu vergehen schien.

Doch in all diesem Dunst der Gedanken, der die Menschen umgab, schien ein Fleck Licht; Licht, das wie ein Sonnenstrahl die Wolken durchbricht und den taubedeckten Talgrund in ein mystisches Licht hüllt. Er war kein Mann für Spiritualität oder Auren, noch etwas dergleichen, doch während er all die vom Flimmern ihrer Smartphones grell gebleichten Gesichter musterte, fiel sein Blick diesem Glanz zu.

Es war ein Wunder, wie er sie überhaupt sehen konnte durch all die dicht gedrängten Schultern, doch saß sie da, blonde Haare, schlanke Figur, grüner Pullover, blauer Schal, blaue Augen, in all ihrer Intensität auf ihr Buch gerichtet. Was auch immer auf diesen Seiten stand, es musste eine faszinierende Tragödie gewesen sein, denn genauso bühnenreif war ihr Mienenspiel; Trauer, Freude, Erschrecken und Verachtung waren in ihrem Gesicht zu lesen. Diese vollkommene Ehrlichkeit ihrer Züge, er kannte sie auf irgendeine Weise. Wie aus einem lang vergessenem Traum schienen ihn diese tiefblauen Iriden zu betrachten.

Er war dieser Frau begegnet, so war er sich sicher, aber woher, offenbarte dieser Traum ihm nicht, doch ihre Vergangenheit war verknüpft gewesen, irgendwie, irgendwann.

Der Zug ruckelte in den Schienen und als hätte dies die Traumblase zerplatzen lassen, wurde es ihm bewusst.

Sie hatte sich verändert, doch ihre Augen waren immer noch die selben.

Blaue Augen, in ferne Welten gerichtet; sie sahen ihn nicht, das hatten sie nie, selbst als er noch direkt vor ihr gestanden hatte. Stets hatten sie durch ihn hindurch geblickt, obgleich sich ihre Gesichter berührt hatten.

Wie sie dort saß, hatte sie noch immer den gleichen Ausdruck, wie vor all den Jahren. Alles, was sie gesehen haben muss, schien sie nicht verändert zu haben, obwohl diese leuchtend blauen Ozeane alles erblickt haben mussten, denn fortgegangen war sie um ihre Träume zu leben und geträumt hatte sie viel. Kristallene Bergsee, unberührte Wälder, schneebedeckte Gipfel. Sie hatte alles dafür aufgegeben, selbst ihn.

Warum war sie wieder hier? Hatte sie all ihre Träume gelebt? Es waren zu viele gewesen für ein einziges Leben, zu viele selbst für ganze Jahrhunderte und doch war sie hier, in seiner Nähe, so greifbar, wie früher einst und doch sahen ihn diese blauen Augen nicht. Vielleicht war es besser so. Was wenn sie ihn fragen würde? Was könnte er erzählen? Nichts käme dem gleich, was sie ausgezogen war zu suchen. Sie hatte gelebt, er war langsam gestorben, untergegangen in dem System, das sie verlassen hatte.

Sie schien ein Kapitel ihres Buchs beendet zu haben, denn sie schloss es und sah auf, zum ersten Mal seit er sie bemerkt hatte. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie in seine Richtung blickte, sie erhob sich, den Blick auf ihn gerichtet, als der Zug in einen Bahnhof einfuhr. Er stand auf, drehte sich um und drängte sich durch die Menge nach draußen.

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⏰ Last updated: May 28, 2018 ⏰

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