Dicke Flocken fielen vom Himmel und erschwerten die Sicht. Der Wald, das Zweibeinernest, selbst die Donnerwege und Monster waren Pfotendick und von einer weichen, weißen Schicht bedeckt. Es war ein recht milder Tag, es war hell, kaum windig und die Kälte und der Schleier aus fallenden Schneeflocken hüllte die Welt in Stille. Nur die Flügelschläge eines aufflatternden Vogels oder der Schrei einer Krähe drangen hin und wieder aus dem Wald und brachen die Ruhe.
Die Zweige und Stämme waren von Schnee und Frost überzogen und wirkten wie Gebilde aus reinem, weißem Kristall. Ein schlammbrauner Fleck schlich durch den Wald und störte das einheitliche Bild. Langes, gelocktes Fell strich an den Ästen des Unterholzes vorbei, fast ohne einen Laut. Eine Kätzin trat aus dem Wald, im Maul ein weißes Kaninchen. Mit stolzem, wachsamem Blick musterte sie ihre Umgebung. Es war Maleyruna, eine junge Kätzin, die seit zwei Lichtwechseln im Zweibeinernest lebte. Sie war nicht die einzige Hauskatze in dieser Gegend, doch keine andere jagte wie sie - sofern sie überhaupt den Mumm hatten, sich in den Wald zu wagen. Die meisten blieben lieber im Schutz der Nester und in der Wärme der Kachelofen. Doch der Schlammfarbenen reichte diese bequeme Leben nicht aus.
Nachdem sie die Lage überprüft und für sicher befunden hatte, überquerte sie einen zugeschneiten Donnerweg. Maleyruna konnte wohl auf sich aufpassen, trotzdem war sie klug genug, um immer auf der Hut zu bleiben. Es gab hier nicht nur wohlgenährte Hauskatzen, die sich gegenseitig das Fell putzten, sondern auch Streuner, die weit weniger Glück hatten und denen ein zartes Kaninchen gerade gelegen kommen würde. Es war eher unwahrscheinlich, sie um diese Zeit hier anzutreffen, doch die Kätzin nahm sich in Acht vor den Streunerbanden. Rumo und Fredda, zwei ihrer besten Freunde, waren erst bis vor Kurzem noch selbst welche gewesen.
Manche Zweibeiner hatten auch Hunde, doch die meisten bellten mehr als sie bissen, so viel hatte Maleyruna bereits herausgefunden. Um die Nester der agressiveren Exemplare machte sie auf ihren Streifzügen große Bögen, und das nicht ohne Grund. Eine hässliche Narbe an ihrem Hinterlauf erinnerte sie an die schlechten Erfahrungen, die sie gemacht hatte.
Die Kätzin zwängte sich durch ein Loch im Zaun, in dem eine Latte fehlte, ihr einziger Ausgang aus dem Garten ihrer Zweibeiner. Vor einigen Monden hatte sie noch besser hindurch gepasst. Eine schlimme Weile lang gar nicht mehr. Doch jetzt ging es wieder. Anstatt zur Tür und somit zur schützenden Wärme des Hauses zu laufen, schlich sie durch den hinteren Garten zum Holzschuppen. Eigentlich war es kein richtiger Schuppen, sondern eher ein großer Unterstand, denn er hatte nur an drei Seiten Wände und war nach vorne geöffnet. Der Boden war etwas höher gebaut, sodass das Holz nicht feucht wurde, wenn der Fluss über die Ufer trat. Darunter war es dunkel. Zwischen Erde und Holzdielen befand sich ein Hohlraum, gerade hoch genug, dass Maleyruna hineinkriechen konnte. Sie duckte sich und schob sich herein. Während ihre grünen Augen sich noch an das Zwielicht gewöhnten, orientierte sie sich an dem Maunzen, das aus einer Ecke kam. Dort lagen zwei winzige Fellknäuel eng aneinandergekuschelt.
Die Kätzin schob die beiden an ihren Bauch, um ihnen Wärme zu spenden. Erschöpft legte sie den Kopf auf die klammen Pfoten und schnurrte glücklich. Sie war nun erst zum zweiten Mal jagen gewesen, seit sie geworfen hatte, und der kleine Ausflug kostete der jungen Mutter noch immer viel Kraft. Noch brauchte sie nicht viel zusätzliches Futter, um genug Milch zu haben, schließlich gab ihr das Zweibeinerpärchen, bei dem sie lebte, auch etwas. Doch wie sollte es werden, wenn die Kleinen größer würden und mehr als Milch brauchten, um zu wachsen? Manchmal machte sie sich Sorgen über die Zukunft. Fredda hatte vorgeschlagen, sie solle doch einfach die Kleinen ihren Zweibeinern vorführen. Sicher, es bestand die Möglichkeit, dass sie dann mehr zu essen bekam und auch für die Jungen gesorgt wurde. Doch Maleyruna tat es nicht. Sie hatte eine Vorahnung, die ihr sagte, dass die Zweibeiner von dem Nachwuchs nicht begeistert sein würden. Sie waren schon in Ordnung, sie kümmerten sich um die Kätzin und hatten sie nie schlecht behandelt. Und doch waren sie strenger als die Hausleute der anderen, und Maleyruna hatte beobachtet, dass Zweibeinerjunge sich von ihrem Haus fernhielten. Nein, sie konnte auf keinen Fall riskieren, dass ihre Jungen in Gefahr gerieten.
Die zwei hatte aufgehört, zu miauen, und tranken nun gierig am Bauch ihrer Mutter, während diese sich über das saftige Kaninchen hermachte. Als sie ihren Bauch ausgiebig mit dem warmen Fleisch gefüllt hatte, leckte sie sich das Blut vom Maul und drehte leicht den Kopf, um ihre Jungen zu betrachten. Sie erinnerte sich daran, wie ängstlich sie kurz nach der Geburt gewesen war, weil sie ihr so klein und zerbrechlich vorgekommen waren. Wenigstens war sie nicht alleine gewesen, wenn auch nicht beim Tierarzt, wie es für Katzenmütter üblich war. Dafür hatten beinahe ein Dutzend anderer Hauskatzen ihr beigestanden, darunter auch einige, die selbst Junge hatten. Wenn sie ehrlich war, war es Maleyruna so ohnehin viel lieber gewesen.
Jetzt freute sie sich, wie stark und lebendig die beiden mittlerweile waren. Sie waren erst einen halben Mond alt und mehr als ein Maunzen brachten sie noch nicht heraus. Doch ihre Augen hatten sich geöffnet und sie hörten sogar schon auf ihre Namen. Belustigt schnurrte sie, als die Fellknäule ungeschickt übereinander rollten. Doch gleich darauf musste sie seuzfen, und sie wusste selbst nicht, ob es aus Bedauern, Glück oder Sehnsucht kam.
Viel hatten die Kleinen wahrlich nicht von ihr geerbt. Nur Khyaaru, der kleine Kater, teilte ihr rötlich-braunes Fell und ihre waldgrünen Augen, doch ansonsten hatte er, wie seine Schwester Chisanu, kaum Ähnlichkeiten mit ihrer Mutter. Selbst die Namen waren fremd und klangen wie keins der Worte, die sie je gehört hatte. Es waren Wörter aus Redensarten, die Katzen von weit, sehr weit weg pflegten, und bedeuteten beide "Frost". In vielerlei Hinsicht mochte das passen, und doch verstand Maleyruna es noch immer nicht ganz. So wie sie vieles an dem Kater, in den sie sich Monde zuvor verliebt hatte, nie verstanden hatte. Ob ich ihn bald wieder sehen werde? fragte sie sich beklommen und sah in Chisanus eisblaue Augen. Sie erinnerten sie an ihn. Das letzte Mal, als er hier gewesen war, hatte er seinen Kindern am Tag nach ihrer Geburt ihren Namen gegeben, doch er war still und verklemmt gewesen, das hatte sie selbst durch seine Maske aus Glück und Stolz als Vater hindurch erkannt. So sehr er es auch versuchte, vor ihr konnte er seine Gefühle nicht verstecken. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob es das letzte Mal gewesen sein sollte. Der Gedanke ließ sie aufschluchzen, doch sie vergub die Schnauze im Schulterfell, bevor die Jungen es hören konnten. Draußen schien jetzt das Tagwerk zu beginnen, Türen gingen auf und zu und Monster wurden von ihren Zweibeinern aufgeweckt. Maleyruna schlief besorgt und ermattet ein, den buschigen Schweif schützend um Chisanu und Khyaaru gelegt.
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Kinder des Nordens - Chisanu und Khyaaru
FanfictionIn einer frostigen Winternacht, in der der Wind heulte und den Jungen an der Brust ihrer Mutter die Schnurrhaare gefroren, wurde die tote Stille des Waldes von knackenden Schritten unterbrochen. Es war keine Katze und auch kein anderes Tier, das dor...