Traurig allein

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Es war ein wolkenverhangener Tag. Die Sonne hatte sich am Morgen noch freudig strahlend gezeigt, doch allmählich verschwand sie, wurde verdrängt von den dichten Wolken, die aufzogen und ein Gewitter ankündigten. Gegen Vormittag war es bereits so dunkel, dass in den Häusern der kleinen Stadt die Lichter angingen und die Autos die Lichter ihrer Scheinwerfer in die Dunkelheit warfen.

Die meisten Menschen waren bereits bei der Arbeit, andere standen gerade erst auf und wieder andere schliefen noch.

Nur er nicht. Er schlang sich gerade seinen Schal um den Hals und streifte die Handschuhe über, die immer auf der Kommode lagen. Seine Haare waren noch ein wenig feucht vom Duschen.

Er würde wieder auf den Hügel gehen. So, wie er das jeden Vormittag zu tun pflegte. Der Hügel war eigentlich nichts besonderes. Ein Erdhaufen, der mitten im Park der kleinen Stadt aufragte. Kaum größer als ein einstöckiges, gedrungenes Haus. Und doch zog es ihn jeden Vormittag hier her.

Jeden Vormittag stieg er hinauf, setzte sich auf die, je nach Jahreszeit kalte oder warme Erde, und blickte hinauf in den Himmel. Und jeden Vormittag machte er ein Bild vom Himmel, das er an die Wand gegenüber seines Bettes hängte. Er machte die Fotos mit einer alten Polaroidkamera, so, wie sie eine gehabt hatte.

Es hingen bereits 289 Bilder an der Wand. So viele Tage verbrachte er nun schon ohne sie. Ohne ihr Lachen, ihre glänzenden Augen und ihr wunderbar riechendes Haar.

Manchmal vermisste er sie. Manchmal war er wütend auf sie. Manchmal unterhielt er sich im Geiste mit ihr, so konnte er wenigstens ihre Stimme noch hören, war sie schon nicht mehr da.

Er schlug die Haustür hinter sich zu. Die kleine Stadt war so verschlafen, dass er sich keine Sorgen um Einbrecher machen musste. Dafür gab es zu wenig zu holen, in den kleinen, aneinander gedrungenen Häusern. Die Leute hier waren nicht reich.

Er schlenderte die Straße hinunter und bog an der Ecke mit dem Kirschbaum ab, direkt in die Straße, die zu dem Park führte. Leise summte er vor sich hin, betrachtete einige Menschen, die im Bademantel vor der Tür standen und nach der Morgenzeitung sahen und hörte den Vögeln zu, die langsam wieder anfingen zu zwitschern.

Plötzlich beschlich ihn ein ganz seltsames Gefühl. Er vermochte es nicht so recht einzuordnen, doch es pochte in seinem Brustkorb vor sich hin, ließ ihn nicht mehr los. Seine Hände schoben sich in die Taschen seines rot-weiß karierten Mantels. Sie hatte diesen Mantel immer albern gefunden.

Jetzt wünschte er sich, sie würde neben ihm herlaufen und über diesen Mantel lachen. Doch sie war fort.

Die Trauer griff schon seit genau 100 Tagen nicht mehr beißend nach seinem Herz. Es war nur noch ein dumpfer Schmerz, der ihn stetig begleitete. Irgendwie hatte er die Zeit nach ihr überstanden. Doch er war nicht mehr er selbst. Jeden Vormittag ging er zu dem Hügel. Er traf sich nicht mehr mit seinen Freunden. Manchmal ging er sogar abends hin, um die Sterne zu betrachten und erfand Sternbilder, so wie sie es immer mit ihm gemacht hatte.

Dann zeigte er nach oben in den wolkenlosen Himmel und verband im Geiste die leuchtenden Sterne miteinander, bis sie ein Bild ergaben. Doch seit sie nicht mehr da war, machte es ihm keinen Spaß mehr. Er machte es, um sie nicht zu vergessen. Er machte es bloß noch, um sie nicht zu vergessen. Doch ihm entglitt ihr Bild immer mehr. Die Feinheiten ihrer Gesichtszüge. Die genaue Farbe ihrer Haare. Die Art ihrer Bewegungen. Ihre Gesten. Ihre Gangart. All diese Kleinigkeiten entglitten ihm immer mehr.

Das Bild, das er auf seinem Nachttisch stehen hatte, fasste lange nicht ihre volle Schönheit auf.

Der Weg machte eine leichte Biegung und er stand vor dem schmiedeeisernen Tor, dass die Aufschrift Little Town Park trug. Er sah sich nach beiden Seiten um, obgleich es nichts zu sehen gab und schritt dann den Kiesweg entlang. Der Weg führte zu einer Gabelung. Der rechte Weg führte zu dem kleinen See, an dem die alten Menschen immer die Enten fütterten, obwohl es verboten war.

Der linke Weg wand sich eng und mit Bäumen gesäumt zum Hügel hinauf. Er schlug den linken Weg ein.

Die Bäume ließen nicht einmal das wenige Licht durch, dass an diesem Tag die Erde erreichte. Die Wolken wollten sich einfach nicht verziehen. Aber ihm war es heute egal. Vormittags gab es bekanntermaßen nie Sterne zu sehen.

Er erklomm den Hügel. Hier störten keine Bäume die Sicht. Es war zwar dennoch dunkel, aber hier oben war es hell genug, um den Himmel zu betrachten und das Foto zu machen.

Er ließ sich auf die noch kalte, harte Erde nieder und griff in seine Manteltasche, um die Polaroidkamera herauszuziehen. Und wieder wünschte er sich, sie würde sich über diesen Mantel lustig machen. Dann müsste er auch nicht dieses Foto machen, um sich an sie zuerinnern.

Er richtete die Kamera aus. Es machte Klick und das Foto schob sich aus der Öffnung. Er nahm es heraus und wedelte damit in der Luft herum. Dann legte er es neben sich auf den Boden, steckte die Polaroidkamera zurück in seine Manteltasche und lehnte sich auf seinen Händen zurück, um in den Himmel zu sehen. Er war grau, wolkenverhangen und trostlos, so, wie seine Stimmung.

Er war so in Gedanken versunken, in Gedanken an sie, dass er die Schritte nicht bemerkte, die sich von hinten heranschlichen.

Erst, als jemand ihm auf die Schulter tippte, fuhr er herum, den Schreck in sämtlichen Gliedern und die Hände erhoben.

Polaroids #skyaward2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt