Glücklich allein

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Was er sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Das liebliche Gesicht, diese strahlend grünen Augen, die leicht nach oben geschwungenen Mundwinkel und der etwas fülligere Körperbau, der unter der großen Jacke, die sie trug, kaum auffiel.

Ihr Gesicht war leicht gerötet, ihre blonden Haare zerzaust, als hätte sie sie sich gerauft. Einen Moment konnte er sie einfach nur ansehen, zweifelte an seinem Verstand und fragte sich, ob er langsam verrückt wurde und vielleicht einen Arzt konsultieren sollte.

Als sie schüchtern lächelte, setzte sein Herz einen Schlag aus und er räusperte sich, kniff sich sogar in den Handrücken, doch er wollte einfach nicht aufwachen, woraus er schloss, dass sein Gehirn entweder ein wunderbar echtes Bild von ihr produziert hatte oder sie tatsächlich leibhaftig vor ihm stand.

„Darf ich?", fragte sie und deutete auf den Platz neben ihm. Er konnte nichts erwidern. Ein Kloß schnürte seinen Hals zu. Deshalb nickte er lediglich.

Als sie sich setzte, rutschte er ein Stück weg, sodass ein gesunder Abstand zwischen ihnen entstand und er so wenigstens eine kleine Chance hatte, wieder zu Atem zu kommen.

Erst sagte sie lange Zeit nichts und starrte in den Himmel, so, wie er das getan hatte. Doch jetzt konnte er nichts anderes tun, als sie anzusehen. Schließlich wandte sie ihm ihren Blick zu.

„Wir haben uns lange nicht gesehen", meinte sie und blickte ihm fest in die Augen. Er schluckte und versuchte, den Kloß in seinem Hals loszuwerden.

„Ja", brachte er heraus und verkniff sich zu sagen, dass sie schließlich gegangen war.

„Ich habe dich vermisst", fügte sie hinzu. Sie blickte ihn unverwandt weiter an.

„Ach wirklich?", fragte er misstrauisch und zog sich noch ein wenig weiter zurück. So sehr er sie vermisste, so sehr hatte sie ihm auch wehgetan.

Sie nickte bloß und endlich wandte sie den Blick von ihm ab. Er konnte wieder frei atmen, sog gierig die Luft ein und riss sich von ihrem Anblick los.

„Warum bist du hier?", verlangte er zu wissen und diesmal war er es, der sie fixierte. Er drängte seine aufgewühlten Gefühle zurück.

„Wie gesagt. Ich habe dich vermisst." Ihre ruhige Art gefiel ihm gar nicht. Wenn er richtig hingeschaut hätte, hätte er festgestellt, dass sie mit sich selbst rang und krampfhaft versuchte, die Tränen zu unterdrücken.

„Aha", machte er nur und wandte den Blick ab, genau in dem Moment, in dem sie ihn wieder ansah.

„Aha? Mehr hast du nicht zu sagen? Nach all der Zeit..." Es war die unmissverständliche Bitte, mit dem Reden anzufangen. Doch er wusste nicht, was er hätte sagen können, um seine Gefühle auszudrücken.

„Du weißt nicht, was du sagen sollst", erriet sie. Und doch war es nicht geraten. Sie kannte ihn so gut. Sie wusste, wie er fühlte. Also sollte er eigentlich auch nicht reden müssen, oder? Es sei denn, sie wollte, dass er redete.

„Nein, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll", hielt er dagegen. Er wollte es sagen. Diese drei Wörter, die ihm alles bedeuteten. Und doch kamen sie ihm nicht über die Lippen. Zu sehr hatte sie ihn verletzt. Einfach gegangen. Das konnte man nicht reparieren. Nicht, ohne den Grund zu erfahren.

„Warum?", fragte er also und lehnte sich nach vorne, sodass seine Ellenbogen auf den Knien abgestützt waren und er den Kopf auf die Hände legen konnte.

„Weil ich mit mir selbst nicht klarkam. Und mit dir in dieser Zeit noch weniger. Ich musste gehen, um mich selbst zu finden. Ich wollte dich nie so verletzen." Mit solch einer Antwort hatte er nicht gerechnet. Erstaunt und auch verwirrt sah er sie an. „Na, du weißt schon. Ich war zickig und unzufrieden und dauernd habe ich herumgemeckert", fuhr sie fort. Ihre grünen Augen verloren ein wenig ihren Glanz. „Ich will dich zurück. Ich kann nicht ohne dich", gestand sie ihm schließlich und senkte die Augen zu Boden.

Er sah sie an, nahm sich die Zeit, zu überlegen. Sie war gegangen, ohne ein weiteres Wort hatte sie ihm einfach die Koffer vor die Tür gesetzt.

Er vermisste sie. Er wollte sie zurück. Er liebte sie. Und dennoch ließ etwas in seinem Inneren nicht zu, einfach Ja zu sagen, sie in die Arme zu nehmen und endlich wieder spüren zu können. Dieses Etwas zersprang und zurück blieb ein Haufen Scherben, der nicht zu reparieren war. Er würde mit dem Schmerz leben müssen, aber das tat er schon 290 Tage lang. 290 Tage hatte sie sich Zeit gelassen, bis sie ihn aufgesucht hatte. Und ihm wurde klar, dass er ihr nicht verzeihen konnte. Zu sehr hatte sie ihm ohne jede Erklärung einfach wehgetan, sein Vertrauen war zerrüttet. Er wusste, dass es nie mehr so werden würde wie früher.

„Ich kann nicht", sagte er. Die Tränen, die sie so mühsam zurückgehalten hatte, brachen hervor.

„Wieso?"

„Wieso bist du gegangen? Damit hast du das zerstört, was zwischen uns einmal war. Vertrauen. Das kann ich nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich liebe dich, so sehr, du warst mein Stern am Himmel, wenn alles schlecht war. Der hellste Stern, der überhaupt je geleuchtet hat in meinem Leben. Aber ich habe kein Vertrauen mehr. Bitte, lass mich gehen."

Als er aufstand, fühlte er sich befreit. 290 Tage waren vergangen. Er nahm die Kamera aus seiner Manteltasche und wog sie kurz in den Händen. Dann holte er aus und warf sie weit, weit weg.

„Dein Mantel. Tausch doch wenigstens den ein", sagte sie noch, ehe die Schluchzer jedes weitere Wort erstickten.

Er machte einen Schritt. Zuerst dachte er, das Herz wolle ihm schier zerreißen. Doch dann tat er noch einen Schritt und noch einen und noch einen, bis er schließlich rannte.

Er rannte und lächelte dabei. Endlich war er wieder frei. Endlich konnte er wieder atmen, die Freude in sein Leben lassen. Endlich konnte er wieder er selbst sein.

Er hatte losgelassen.

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