So dünn. Wie kam es dazu? Warum sahen wir es nicht? Wie konnten wir bloß so blind sein?
Diese Schmächtigkeit passt ihr nicht. Sie sieht so zerstört aus. So als ob ihr irgendetwas ihre Lebensenergie ausgesaugt hätte. Nicht einmal das frisch gekaufte Kleid lässt sie schön ausschauen. Es ist wunderschön, weiß. Viel Spitze. Mutter hat viel dafür bezahlt. Trotzdem, sie sieht hässlich aus. Es passt nicht zu ihr, sie war viel zu wild für ein weißes Kleid, sie hätte es sofort dreckig gemacht, jedenfalls früher. Ihre Wangenknochen, eingefallen. Jetzt sieht man sie. Früher hat sie sich beschwert, dass man ihre überhaupt nicht sieht. Beneidet hat sie mich, für meine.
Ihre Wimpern erscheinen nun noch länger und dichter. Schön. Wohl das Einzige. Ich nehme ihre Hand in meine. So dünn. So knochig. Hässlich. Ich drücke sie. Lege sie wieder neben ihren fragilen Körper.
Ihre Haut ist blass. Sie war doch immer die mit der Farbe. Darauf war sie stolz. Ich musste mich immer mit 50-Gradiger Sonnencreme eincremen, während sie sie manchmal ganz wegließ.
Ich küsse ihre Wange. Zum Abschied. Ich weiß, ich werde sie nie wiedersehen. Nun finde ich es beschissen, dass sie nicht gläubig war. Sonst hätte sie wenigstens an ein Leben danach hoffen können.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Wie lange stehe ich schon da? Ich drehe mich um. Meine Mutter. Ihr Gesicht verheult. Sie hat wasserfestes Make-up benutzt. Schwach lächelt sie mich an. Ihr Lächeln erreicht nicht ihre Augen. Ob es das jemals wieder wird? Ich straffe mein Sakko. Gehe zurück auf meinen Platz. Die Bestattung findet in einer Kirche statt. Ironisch. Es sind viele Menschen gekommen. Sogar aus Brasilien sind Verwandte gekommen. Die meisten haben rotgeweinte Augen. Julia weint schon die ganze Zeit. Simon ist auch gekommen. Auch andere aus ihrer Klasse. Auch einige Lehrer.
Ich sitze wieder. Nach und nach setzen sich die Leute, die hinter mir standen, auch wieder. Der Pfarrer redet wieder. Kein einziges seiner bedingungslosen Worte erreicht meine Ohren. Warum auch? Ich warte bis es vorbei ist.
Jeder spricht sein Mitleid aus. Langweilig. Die engere Familie geht noch Essen. Die Stimmung ist bedrückt. Ich höre dem Geschwätz noch immer nicht zu. Wozu auch? Das Essen schmeckt nicht. Ich esse es trotzdem. Meine Eltern hat es schlimm getroffen. Mutter hat es geschafft ihre wunderbar verschlossene Fassade wieder aufzubauen. Sie redet zwar nicht viel, aber hört den anderen gespielt interessiert zu. Ich sehe zu Vater. Seine Miene ausdruckslos. Wie eh und je. Vorher in der Kirche hat er die ganze Zeit geweint. Auch jetzt noch sind seine Augen angeschwollen. Stefanie unterhält sich mit Onkel Hannes, die Zwei verstehen sich gut. Die anderen Menschen reden auch.
Ich sitze neben Mama und Papa. Nun fühle ich mich allein gelassen.
„Alex. Du bist so still. Willst du reden?" Wir sitzen im Auto. Ich sitze Vorne. Karl ist etwas Trinken gefahren. „Willst du?" „Nein." „Okay." Wir sind zu Hause. Mutter lässt sich ein Bad ein. Ich bin auf dem Weg zu meinem Zimmer. Ich habe mir einen Kaffee geholt. Ihre Zimmertür steht offen. Ich schließe sie. Ich gehe langsam in mein Zimmer. Setze mich auf den Boden. Ausziehen kann ich mich auch später. Ich versuche einen Schluck des Kaffees. Er ist heiß. Langsam lasse ich zwei Finger in die Flüssigkeit gleiten. Ich nehme den Schmerz wahr. ich ziehe meine Finger wieder heraus. Sie sind rot. Ich trinke weiter meinen Kaffee.
Ich werde immer weiter meinen Kaffee trinken.
YOU ARE READING
Kaffee trinken
Teen Fiction~Ihre Wangenknochen, eingefallen. Jetzt sieht man sie. Früher hat sie sich beschwert, dass man ihre überhaupt nicht sieht. Beneidet hat sie mich, für meine.~