EINS

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Am Tag scheint es, als wäre der Hinterhof ein ganz gewöhnlicher, toter Hinterhof, umgeben von heruntergekommenen Häuserfassaden, die mit todschwarzen Augen auf ihn heransehen, als hätten sie mit ihm abgeschlossen, als wären sie es Leid Tag für Tag immer und immer nur auf ihn hinabblicken zu müssen. Aber wenn sich die Sonne hinter den Dächern und Antennen senkt, die Häuser ihre langen Schatten in den Hof werfen und die Schatten im Takt der Sonne die gegenüberliegende Hauswand verschlucken, kommt unmerklich Leben in den Hinterhof.

Ich schalte das Licht aus, das Zimmer wird von der Finsternis der Nacht überflutet als hätte jemand schwarze Tinte über das Zimmer gegossen. Trotz der sichtraubenden Dunkelheit finden meine nackten Füße den Weg zu der Matratze, wankend und vorsichtig, den Untergrund vor jedem Schritt prüfend.

Die Ecken des Hinterhofes sind nicht mehr zu erkennen, das allgemeine Schwarz der Nacht verschluckt sie.

Man bemerkt nicht, wann sie kommen, wann sie sich hinstellen und ihre Zigarette anzünden. Sie sind plötzlich einfach da, lehnen unbeweglich an der schmuddeligen Hauswand in ihren großen Kapuzen und der dunklen Kleidung, die sich über die Ware bauscht, die sich unter dem Stoff verbirgt. Ich muss an die Doppelbilder meiner Kindheit denken, auf denen man Zehn Fehler finden musste, der Kuh fehlten die Flecken, die übergroße Blume hatte sich von einem Gänseblümchen in einen gelben Löwenzahn verwandelt, das Fahrrad, dass am Zaun gestanden hatte, stand an der Stalltür. Der leere Hinterhof war von düsteren Gestalten erfüllt.

Leicht sind die Alteingesessenen von den Neulingen zu unterscheiden, sie sind schon länger im Geschäft, kennen Kunde und Ware und haben über die Jahre in dem schmutzigen Geschäft Erfahrung gesammelt, ihre Bewegungen sind sicher, ihre Haltung unerschrocken.

Die Neulinge hingegen bewegen sich zögerlich, stehen etwas verschüchtert im Schatten, ihre Finger zittern wenn sie die mit weißem Pulver gefüllten Plastiktütchen und die länglichen Stangen überreichen und ihre Haltung gleicht einem kleinen wilden Tier, das sich in die Nähe des Menschen wagt, um ein Stück Salami zu bekommen, während in ihm die Angst vor dem Menschen gegen die Gier nach Essen kämpft.

Mein Kopf ist bleiern und obwohl ich ihn langsam gegen die Fensterscheibe sinken lasse, erschrecke ich mich über die plötzliche kalte Härte, als mein Kopf auf dem Glas aufkommt. Meine Augenlider sind schwer. Es ist ein Kampf, den ich unmöglich gewinnen kann, ein Kampf gegen meinen eigenen menschlichen Mechanismus, aber ich kann passiven Widerstand leisten, solange im schweren Wachsein dösen bis der Schlaf mich übermannt und ich endlich kapituliere und einschlafe.

Vor meinen Augen spielt sich eine eingespielte Choreographie ab. Für diejenigen, die das nächtliche Treiben im Hinterhof schon zuvor beobachtet hatten, wirkt sie so abgekaut wie eine billige Castingshow aus dem Fernsehen mit einem austauschbaren, leeren Konzept, bei der die Staffeln einander gleichen wie eineiige Zwillinge. Manchmal gibt es Aufstände. Ein Betrunkener geht auf einen Dealer los, eine Prostituierte hat kein Geld und will mit Sex bezahlen. Ihr Geschrei zerreißt die raunende Stille, die murmelnd im Hinterhof hockt, wenn die Gangs der Dealer die Kunden in die ausgebrannte alte Fabrik ziehen, die gegenüber von meinem Haus vermodert.

Meine Augenlider sind schwer. Ich weiß, dass es utopisch ist, er wird nie kommen. Die bittere Hoffnung schmerzt. Immer wieder zieht mich der Schlaf in seine erholsamen, wohltuenden Fänge und lässt mich alles vergessen.

Einen letzten Blick werfe ich auf den Hinterhof, betrachte die unseriösen Geschäftsleute und die schmutzigen Käufer, dann lege ich mich auf die Matratze, das Gesicht zum Fenster.

Von hier aus kann ich nicht mehr hinab auf den Innenhof blicken. Von hier aus kann ich über die schwarzen Silhouetten der Dächer schauen und zwischen den Antennen kann ich den Sternenhimmel sehen, ausgeblichen von den Lichtern des Rotlichtdistriktes, die mit ihm konkurrieren, und der aussieht wie ein Künstler, der Alkoholabhängig wurde.

Er ist nicht gekommen. Aber eigentlich hatte ich es schon vorher gewusst, heute Morgen, als ich aufstand, heute Mittag als ich im Wald war, und heute Abend, als ich mich auf die Matratze setzte, um zu warten. Eine kläglich unerfüllbare Hoffnung, wie die eines Kindes, das sich zum Geburtstag ein echtes Einhorn wünscht.

Mein Herz schmerzt.
Ich drehe mich um, mit dem Rücken zum Fenster. Ich ertrage es nicht unverwirklichten Wünschen entgegen zu sehen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 18, 2018 ⏰

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