Das Haus ist eigentlich kein Haus. Genau genommen wirkt das Haus von außen eher wie eine dieser prunkvollen high-society Villen, wie man sie aus den typischen amerikanischen Bonzen-Filmen und Serien kennt. Es hat einen beneidenswerten Vorgarten mit ordentlich gestutzten Hecken und einem Rasen, der immer wieder die denkbar klischeehaftesten Auszeichnungen und Preise erhält. Kein Wunder, denn dieser Vorgarten wird auf besonders penible Art und Weise gepflegt, sodass vorbeikommende Personen, die zumeist in ähnlichen Häusern, mit ähnlichen Vorgärten, in ähnlichen Straßen und Vierteln wohnen, gar keine andere Wahl haben als zumindest kurz, aber gerne auch einen Augenblick länger, stehen zu bleiben und den Besitzer des prachtvollen Grundstücks für sein Geschick und seinen Ehrgeiz - für seinen Erfolg - zu bewundern.
Unmittelbar vor dem Haus befindet sich eine einladende Veranda, die in ebenso hellen Farben gehalten ist wie die komplette Fassade des eigentlichen Bauwerks, und die man von der Straße her kommend über einen ordentlich gelegten Fliesenweg erreicht. Auch die Eingangstüre des Hauses, hinter der die nicht weniger prachtvolle Eingangshalle liegt, wirkt in ihrer wohl durchdachten Architektur keinesfalls bedrohlich, sondern ganz im Gegenteil überaus einladend.
Schreitet man nun durch die Eingangshalle und folgt dabei dem Verlauf des roten Teppichs, gelangt man an eine edle Treppe, die in das obere Stockwerk führt.
Da sich zu dem oberen Stockwerk jedoch für gewöhnlich kein Besucher ungebeten hinauf verirren würde, bleibt man für einen Moment unschlüssig in der Eingangshalle stehen und betrachtet die vielen glänzenden Trophäen, die auffällig entlang der Wände auf hohen Sockeln und in fein säuberlich geputzten Vitrinen aufgestellt sind. Wer diese Trophäen wofür genau gewonnen hat spielt dabei allerdings überhaupt keine Rolle. Hauptsache sie verlieren nicht ihren Glanz und können gut sichtbar von jedem in Augenschein genommen werden.
Hat man dies nun getan, so geht man vermutlich als nächstes in das angrenzende Wohnzimmer, das von der Größe her wohl genauso gut ein Festsaal hätte sein können. Diese Größe spiegelt sich auch in der überaus schlichten, modernen Einrichtung wieder und obwohl der Raum beinahe etwas kühl wirkt kann man nicht anders, als auch hier voller Bewunderung hindurch zu schreiten. Während die eine Seite des Raumes, jene, die in Richtung des Vorgartens zeigt, nahezu komplett von geradezu überdimensional großen Fenstern erleuchtet wird, befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, in einer etwas abgedunkelten Ecke, eine kleine gut gefüllte Bar. Dazwischen liegt unter anderem ein teurer Teppich auf dem Boden, auf dem ein moderner Kaffeetisch, sowie zwei nicht weniger moderne und teure Sofas ihren Platz gefunden haben. Diese zentrale Sitzecke wird von einigen Pflanzen verziert, die dem ganzen eine gemütliche und beruhigende Atmosphäre verleihen sollen.
Im hinteren Teil des Zimmers führt eine schmale Treppe ein Stockwerk tiefer in den kleinen Wein- und Vorratskeller, dessen Existenz man allerdings ohne das Wissen über eben diese gar nicht bemerken würde.
Ist man nun ein neugieriger Mensch, der gerade aus dem versteckten Weinkeller zurückkommt, so fragt man sich nun vermutlich auch, was sich denn im wenig besuchten und eindeutig privaten oberen Stockwerk noch für edle Räume verbergen. Man geht erneut durch die Eingangshalle und betritt die erste Treppenstufe, in der Hoffnung oben vielleicht auf noch luxuriösere Räume zu stoßen.
Oben angekommen stellt man zunächst fest, dass es hier oben tatsächlich mehr Räume als im darunter liegenden Stockwerk zu geben scheint, jedoch sind die Türen geschlossen, sodass der schmale Gang in diesem Augenblick nur von dem hellen Licht der Eingangshalle ein wenig erleuchtet wird. Man geht auf die erste Tür zu und drückt die Klinke herunter, um kurz darauf in einem hell erleuchteten Arbeitszimmer zu stehen. Durch die großen Fenster blickt man in den Vorgarten und obwohl das Zimmer an sich nicht unordentlich ist liegt eine gewisse Unruhe in dem Raum, die für den Besucher nicht so ganz zuzuordnen ist. Es hat keinen Reiz den Ursprung dieser sonderbaren Atmosphäre ausmachen zu wollen, also verlässt man den Raum wieder, lässt die Türe jedoch offen um wenigstens eine weitere Lichtquelle zu haben, die den schmalen Gang mit den vielen Türen erhellt.
Man möchte den nächsten Raum betreten und drückt erneut die Türklinke herunter, doch die Türe bewegt sich nicht. Erneut drückt man die Klinke herunter und lehnt sich gegen die Türe, doch nichts geschieht. Die Tür ist verschlossen. Irritiert begibt man sich nun zur nächsten Türe und versucht diese zu öffnen, doch auch hier geschieht nichts. Ebenfalls verschlossen. So ist es mit allen übrigen Türen des Stockwerks und während man sich darüber zu wundern beginnt fällt einem überhaupt nicht auf, dass es, je näher man an das Ende des Gangs kommt, immer dunkler um einen herum wird und die Tapete und der Putz an den Wänden immer mehr von eben diesen herab blättert. Sind es am Ende der Treppe nur wenige, kaum bemerkbare Stellen, an denen der Gang etwas heruntergekommenes hat, so ist dies am Ende desselben kaum zu übersehen. Das ganze obere Geschoss liegt in einer beklemmenden Stille da. Das heißt: Fast das ganze obere Geschoss.
Erreicht man die letzte Tür ganz hinten am Ende des Ganges, dort, wo nichtmal mehr das Licht der hellen Fensterfront hinreicht, so hört man, während man von geradezu bedrohlicher Dunkelheit umhüllt an der verschlossenen Türe des letzten Raumes steht und lauscht, kaum merklich leise Stimmen. Die eine davon, ein bedrohliches Flüstern, beinahe schon ein schlangenähnliches Zischen, scheint, obwohl ihr Ton harsch und durchdringend ist, nichtmal halb so beängstigend zu sein, wie die zweite Stimme, deren Worte kaum mehr als ein leises Wimmern sind. Die ganze Umgebung wirkt mit einem Mal, mit dem Klang dieser beiden Stimmen, nurmehr bedrohlich und schlicht eine Nummer zu groß für jemanden, der von dem schönen Schein der äußeren Fassade geleitet, auch das Innere erkunden will.
Das zunächst so einladend wirkende Haus scheint von diesem Moment an plötzlich gar nicht mehr so einladend zu sein. Selbst der eigentlich neugierige Mensch wird es nun nicht mehr wagen dem auf den Grund zu gehen und das Innere des Hauses weiter zu erforschen.
Und so wird das, was sich hinter der verschlossenen Türe am Ende des engen Gangs im dunklen oberen Stockwerk des prunkvollen Hauses abspielt, wohl immer im Verborgenen bleiben und jeder, der das leise Wimmern der zweiten Stimme einmal unwissend vernommen hat, wird sich von diesem Moment an wünschen es bei dem schönen Schein des prachtvollen Vorgartens belassen zu haben.
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Herbstgedanken
Short StoryIm Herbst schreibt es sich zumeist am besten. Vielleicht, weil man im Herbst andere Gedanken hat. Melancholischer, gefühlvoller, tiefgehender. Und weil ich nunmal die größte Inspiration zum Schreiben im Herbst finde, trägt diese Sammlung von Kurzges...