Ohne Titel Teil 1

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„Tschau! Bis morgen", ich lächle sie an, doch es ist gelogen, mein Lächeln und mein ‚bis morgen'. Alles gelogen! „Bis dann", kommt die Antwort von meinen Freuden. Ich gehe aus dem Saal, ziehe mich an und laufe aus dem Gebäude. Eigentlich um nach Hause zu fahren, doch ich werde heute nicht mehr dorthin zurück gehen. Ich will nicht mehr zurück in dieses Haus. Alle nennen es ‚Zuhause', aber das ist es nicht! Es ist ein Ort an den ich ‚gefesselt' bin, dort schlafe und esse ich, dort sind die Personen, die sich meine Eltern nennen. Die Menschen, die mich lieben sollten, ich überlege ob ich ihnen hiermit Schmerzen zufüge? Ihre verachtenden Blicke kommen mir in den Sinn und die Erinnerungen an die letzten Jahre und bestärken mich, meinem Plan zu folgen. Während ich nachdenke komme ich meinem Ziel immer näher.

Vor dem Wald bleibe ich stehen und sehe mich noch ein Mal um, ob mich niemand sieht, mir niemand gefolgt ist. Der Regen, der schon den ganzen Tag fällt, durchnässt meine Winterjacke und mit einbrechender Nacht beginnt es wieder zu frieren. Ich laufe unbeirrt weiter in den Wald hinein, immer weiter, dann biege ich nach links ab. Nichts kann mich aufhalten, nicht die Dornen, die an meiner Kleidung ziehen, nicht die Äste, die mir auf Hände und Gesicht schlagen während ich zwischen den Bäumen weiterlaufe. Dann kann ich es hören und Minuten später sehen, das Rasen der Autos über die Hauptstraße. Die Hauptstraße, mein Ziel. Ich ziehe mein Handy aus meiner Tasche und schreibe meiner Freundin, dass es mir leidtut und ich sie liebe. Sie fragt mich was ich vorhabe, meine Antwort lautet ‚Nicht nach Hause gehen. Eigentlich gehe ich bald nirgends mehr hin', dann stecke ich mein Handy weg und fühle in meiner Tasche nach dem Brief, den ich schon seit Wochen mit mir herumtrage. Dort steht es, warum ich bin wie ich bin, tue was ich tue und vor allem wieso ich das hier tun werde. Ja, mittlerweile weine ich, doch nur weil ich weiß, dass ich meine Freundin damit verletzen werde. Ich spüre mein Handy vibrieren, aber ich beachte es nicht, ich gehe auf die Straße zu und trete auf sie hinaus. Ein Auto kommt auf mich zu und bevor der Fahrer reagieren kann ist es auch schon zu spät. Ich höre noch sein Hupen und die quietschenden Bremsen beim kläglichen Versuch mich nicht zu überfahren, im nächsten Moment spüre ich den Aufprall, dann wird alles still.

Tage später findet meine Beerdigung stat. Alle sind da, alle weinen, selbst die die mich Jahre lang ignoriert oder verarscht haben. Selbst die Menschen, wegen denen ich tot bin, weinen. Mein Blick gleitet weiter über die Leute, da steht sie, meine Liebe. Völlig in Schwarz gekleidet, die Tränen laufen ihr wie Bäche über die Wangen. Ich trete zu ihr, sie kann mich nicht sehen, das weiß ich, doch es bricht mir das Herz sie so zu sehen. Vorsichtig fahre ich über ihren Kopf, durch ihre wunderschönen Haare, auch wenn sie die Berührung nicht wahrnehmen kann. Ich wünschte ich könnte sie noch einmal küssen, ihr noch einmal sagen wie sehr ich sie liebe. Langsam geht die Beerdigung zu Ende und alle gehen, nur sie bleibt noch an meinem Grab. Weinend fällt sie auf die Knie nieder. „Wieso?! Wieso hast du das getan?" schreit sie in Richtung Himmel, doch gegen Ende werden ihre Worte immer leiser und ihr Schluchzen immer lauter. Nach einer Weile, in der ich neben ihr gesessen bin, steht sie auf um zu gehen. Bevor sie gehen kann flüstre ich ein „Ich liebe dich." Und als hätte sie mich gehört, dreht sie sich um, lächelt traurig und flüstert genau so leise: „Ich dich auch."

A little big lieWhere stories live. Discover now