eins

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h a r r y 

Verdammt, Hügel waren anstrengend. Vor allem Hügel ohne Asphalt - ich brauchte ziemlich viel Muskelkraft, um voranzukommen.

Die Räder meines Rollstuhls quietschten und waren aufgrund meiner schwitzenden Hände feucht. Ich stöhnte auf vor Erleichterung, als ich oben angekommen war. Die heiße Julisonne brannte sich in mein Gesicht und ich blinzelte, um meine Umgebung besser erkennen zu können. 

Die Vögel über mir zwitscherten, ich hörte etwas weiter entfernt glückliche Kinder lachen und kreischen, weinende Babys und die Hunde, die bellten. Die typische Lautstärke eines Parks - nur dass es nicht irgendein Park war, sondern der Park, in dem ich meine gesamte Kindheit verbrachte.

Aus Reflex drehte sich mein Kopf zu den alten Schaukeln, die bei einem hohen Gewicht auch schnell ihre Metallketten aus den Halterungen verloren. Ich sah das Klettergerüst, weswegen ich mir circa zwei Mal meinen Arm gebrochen hatte - einmal wurde ich geschubst und das andere Mal bin ich gefallen. 

Als ich meinen Blick nach rechts schweifte, erkannte ich den absoluten Lieblingsort von mir - das kleine Fußballfeld: Viel zu hohes Gras bedeckte den Boden, die Tore waren klein, alt und abgenutzt und es zeigten sich Löcher im Netz. An diesem Platz bin ich vor Freude aufgesprungen, ich habe vor Schmerzen auch geweint und bin vor Frust auf die Knie gefallen. Es war einfach der Ort meiner Kindheit.

In diesem Moment spielte eine Gruppe von Jungen. Sie brüllten bei einem Foul und zeigten sich immer wieder gegenseitig den Vogel, manchmal prügelten sie sich auch und verlangten nach einer Berührung Elfmeter. Das, was da vor sich ging, war kein Spielen, es war Kämpfen. Bei meinen Jungs und mir war es immer anders gewesen. Wir waren ein Team, haben viel gewonnen und viel verloren, aber wir sind uns immer treu geblieben. Marcus, mein bester Freund, spielte in einem bekannten Verein und hat seine Träume erfüllt. Er und ich lebten gemeinsam in einer WG, doch im Moment musste er die ganze Miete zahlen, da ich an keinen Job rankam.

Niemand wollte einen Behinderten auf einem Rollstuhl als Mitarbeiter.

Frustriert fuhr ich mir durch die Haare und suchte mir einen Platz im Schatten. Ich kam hierher, um mich von all dem Stress abzulenken und alte Erinnerungen zu genießen. Nicht, um mich selbst noch mehr zu stressen.

Als ich an einem Baum ankam, der unter seiner Krone genug Schatten bot, packte ich einen kleinen Korb aus, indem sich ein paar Sandwiches und Wasserflaschen befanden. Dann versuchte ich - so gut es in einem Rollstuhl ging - eine kleine Decke auszubreiten, um mich hinzulegen. 

Nach gefühlten Stunden gelang es mir endlich, und so glitt ich von meinem Rollstuhl hinunter auf die Decke. Ich wusste bereits, dass das Hinunterkommen einfacher war als das Draufsetzen, und so seufzte ich schon an den Gedanken an die körperliche Anstrengung, die ich bald verrichten musste.

Meine Güte, Styles. Du bist so unfassbar faul geworden, dachte ich, während ich Ohrstöpsel aufsetzte und aus meinem kleinen, alten, aber trotzdem nutzbaren mp3-Player Musik laufen ließ, um mich endgültig zu entspannen. Ich lag da, die Arme hinter meinem Kopf verschränkt, um in den Himmel schauen zu können und die Wolken zu beobachten, und nach einer Weile wiegte mich die Musik in den Schlaf.

Mein Nickerchen wurde von einem Rütteln geweckt. Grummelnd öffnete ich die Augen, nur um zwei riesige braune Pupillen zu sehen. "Verzeihung, Sir. Ich wollte sie wirklich nicht wecken, aber-", fing die Kleine mit ihrer hohen Stimme an, und ich setzte mich seufzend auf, um ihr besser zuhören zu können. "Mein Ball hängt im Baum fest, und ich komme nicht dran. Meine große Schwester hat es auch versucht, aber wir sind beide ziemlich klein. Könnten Sie uns vielleicht helfen?"

Ich vergrub das Gesicht in den Händen und rieb mir die Augen, um etwas Zeit zu schinden. Das kleine Mädchen blickte mich erwartungsvoll mit ihren riesigen Augen an und wartete auf meine Antwort. "Hör mal, Kleine. Weißt du, was eine Querschnittslähmung ist?", begann ich.

"Nein, tut mir Leid. Ich bin erst sechs, verstehen Sie? Sowas hatten wir noch nicht in der Schule." lautete ihre Antwort und ich musste bei ihrer Höflichkeit lächeln. "Du kannst ruhig 'du' zu mir sagen, ich bin noch kein Opa.", brachte ich sie zum Lachen, fuhr aber ernster fort. "Nun, genau genommen habe ich eine Paraplegie, aber dieser Begriff ist ziemlich komisch. Das bedeutet, dass ich meinen unteren Bereich, sprich meine Beine, nicht bewegen oder fühlen kann.. Es ist taub, ich spüre nichts." 

"Wirklich gar nichts?", fragte sie erstaunt. "Nein, wirklich gar nichts. Du kannst mich ruhig schlagen, um es auszuprobieren.", lächelte ich. Ich war zuerst ziemlich überrascht, als sie sofort zuschlug, aber es war nicht schlimm, da ich sowieso keinen Schmerz spürte. "Kannst du nicht fester schlagen?", provozierte ich sie spielend. Sie keuchte auf vor Anstrengung, als sie mit hochkonzentriertem Gesicht beide Hände zu Fäusten ballte und zuschlug. Aber wieder spürte ich nichts, außer ein kleines Kribbeln.

"Okay, ich kann nicht mehr", schnaufte sie nach einer Weile und ich lachte. Nach einigen Sekunden stellte sie fest: "Aber wenn du deine Beine nicht spürst, kannst du..." "Kann ich auch nicht stehen oder laufen, du hast Recht." beendete ich ihren Satz. "Deswegen der Rollstuhl?", fragte sie mich leise. "Deswegen der Rollstuhl", stimmte ich zu.

Ich dachte, sie würde verschwinden, aber da begann sie wieder zu sprechen. "Aber dann kannst du nicht spielen! Du kannst nicht Fangen spielen, du kannst nicht bei Twister mitmachen und du kannst nicht auf Rolltreppen gehen! Rolltreppen machen aber so Spaß!" 

Ich nickte ihr stumm zu und musste bestürzt feststellen, dass ihre Augen wässrig wurden. Oh mein Gott, ihre Eltern werden denken, ich hätte irgendetwas falsch gemacht! Apropos, wo waren ihre Eltern eigentlich?

"Du tust-tust mir so so Leid!", flüsterte sie und warf sich auf mich, um mir eine Umarmung zu geben. Erstaunt saß ich eine Weile erstarrt da, als ich ihre dünnen Arme um meine Schultern spürte. Nach einiger Zeit umarmte ich sie zögernd zurück. Ich wollte nicht, dass ihre Eltern dachten, ich wäre ein Pädophiler oder so etwas. Aber es war schon sehr niedlich von ihr, dass sie Mitleid mit mir hatte.

"Deinen Ball kann ich dir leider nicht geben, aber deine große Schwester könnte sich mit einem Stock auf meinen Rollstuhl stellen und bekommt ihn vielleicht herunter." riet ich ihr, um sie zu trösten.

Das kleine Mädchen löste sich von mir und wischte sich einmal mit ihrer Hand über das Gesicht, anschließend lächelte sie. "Na gut, ich gehe sie mal holen. Danke, Mister...", fing sie an, stoppte aber, als sie feststellte, dass sie meinen Namen nicht kannte. "Nenn mich Harry, ja? Einfach nur Harry. Und wie heißt du?" 

"Jessica." antwortete sie. 

"Schöner Name."

Dann stand sie auf und rannte geradeaus, wahrscheinlich, um ihre Schwester zu holen.

Nach einiger Zeit konnte ich ihre Silhouette erkennen, als sie mit einer anderen Person an der Hand zu mir marschiert kam. Ich dachte, mit klein meinte sie jung. Deswegen war ich erstaunt, als ich eine junge Frau meines Alter auf mich zutrotten sah.

Und es war eines der schönsten Frauen, die ich je in meinem Leben gesehen hatte.

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hiii!

Das war jetzt mal so ein kurzes 'EInleitungs'-Kapitel. Kurz, knackig, wuuuush :D 

Über einen Kommentar oder ein Vote würde ich mich riiiiiesig freuen, it would just make my day x

Genauso sind (konstruktive!) Kritik und Fragen seeeehr wilkommen. Ihr könnt aber auch einfach mit mir schreiben, ich bin voll lieb, hihi.

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