Zährenherz

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Zährenherz, der einst vielleicht stattliche, doch nun mehr abgemagerte, kalte Kater lag auf der Lichtung des Lagers. Auf einen ersten flüchtigen Blick schien dort einfach eine Katze zu liegen und vor sich hinzudösen, doch bald wurde dieses Bild schon von gebrochen, von Gliedern, die verdreht und zweifelsohne gebrochen von einem schweren Sturz berichteten. Das Gesicht des alten Kriegers, welches sonst nur viel zu oft Repression, Bitterkeit oder mühevoll versteckte Furcht gezeigt hatte, spiegelte nun mehr keinen Ausdruck. Seine harten, ausgemergelten Züge waren leer und durchweg ausdruckslos, als hätten sie vergessen, die Angst, die er schon immer in seinem Innersten vor dem Tod geschürt hatte, in seinen letzten Augenblicken nach Außen zu tragen.
       Ein Atem war nur schwer auszumachen, scheinbar reglos war der Körper der Katze verharrt, ohne das die schwache Bewegung ausgemacht wurde, die trotz allem noch durch seinen Brustkorb ging und gebrochene Rippen monoton auseinandertrieb, um die ungleichmäßig rhythmisch wieder zusammenzuziehen. Das Fleisch war inzwischen bis zu einem Stadium erkaltet, wo die Grenze zu der körperlichen Wärme des Lebendigen wohl bald verschwommen war. Wie wäre es also anders zu erwarten gewesen, als das der Tod den Krieger schon in seiner Volkschaft empfangen hatte.

Es war ein schnarrendes, leises Ertönen, welches Zährenherz instinktiv zusammenzucken ließ. Auch wenn der Kater die Augen noch geschlossen hielt, so schaffte das sanfte Geräusch doch, ein kleines Stück Realität zurückzuholen. Süß hallte es durch seinen Kopf, ein liebliches Schnurren, dass er viel zu lange nicht mehr vernommen hatte. Dennoch überkam ihn ein finsteres Gefühl. Dies war vollkommen unmöglich, denn es konnte nicht wahr sein, das durfte es nicht. Wie lange es genau her war, konnte er nicht sagen, doch vergessen hatte er bis zum heutigen Tage nicht die leise, liebliche Stimme von Rachenblut, die wohl schönste und liebreizenste Kätzin, die jemals lebte.
       »...Bruderherz ...Du siehst so unglücklich aus.«, hallte die Stimme, während sie sich allmählich zu nähern schien, ein trauriger Ton, der versucht wurde zu unterdrücken, lag ihr inne. Zaghaft öffnete Zährenherz die verklebten, bernsteinfarben Augen und blickte auf. Er wusste nicht, wo er war, denn anstelle des Lagers des EchoClans konnte er um sich kaum mehr als eine verschlingende Schwärze wahrnehmen, die um ihn fast alles einzunehmen schien. Schwärze und Kälte, aus deren Mitte sich eine schneeweiße Kätzin erhob. Ihre stahlend blauen Augen blitzen zugleich sanft und liebevoll auf ihn herab, wie zwei Sterne. Eigentlich sollte der sterbende Kater wohl frieren, doch in diesem Augenblick wahr alles abgesehen von der Katze vor ihm in Irrelevanz versunken, die ihresgleichen sucht. Mit geweiteten, müden Augen musterte er sie, brachte aber kein Wort hervor. Obwohl er sich lange vermutlich nichts sehnlicher gewünscht hatte, machte sich ein dumpfer Schmerz in seinem Herzen aus, der ihn schon sein halbes Leben verfolgt hatte. Sie aber lächelte nur sanft und zuckte mit den silbrigen Schnurrhaaren. Zährenherzens Blick glitt von ihren Augen herab über ihren Pelz, bis die Dunkelheit langsam ihre Beine verschlang. Jetzt erst stellte er fest, dass ihr Körper mit diesem Schatten, der dem kühlen Winterfirmament glich zu verschwimmen schien. Sie gehörten zusammen.
        »Zährenherz...«, als er diesen Namen vernahm, stellte sich sein pechschwarzer Pelz auf; er trug ihn erst, seit er mit seinen Sohn Teil des EchoClans wurde, »Ich warte schon so lange auf dich. Denn so lange schon bin ich fort.« Rachenblut versuchte, bitter zu lächeln, aber selbst das traurigste Lächeln, schien ihr Antlitz nur schöner zu machen. Seit sie gestorben war, war sie um keinen Tag gealtert, im Gegensatz zu dem Kater. »...Und dennoch hast du mich nie vergessen. So lange schon bist du jetzt allein und traurig, ach Bruderherz.« Das Folgende schien ihr schwer zu fallen, trotz ihrer Art, die sonst immer so stark war: »Ich habe immer über dich gewacht, immer, und noch immer... — Nun musst du loslassen.«
        Der Kater blinzelte sie an und erkannte Tränen in ihren Augen. Es brauchte seine Zeit, bis er antwortete; wie ein Rabenkrächzen hallte dabei seine kaputte Stimme, dennoch so entschlossen, wie er konnte: »J- ...Ja, natürlich«, raunte er und versuchte vergeblich, sich hochzustemmen, »...Ich, ich sterbe, nicht wahr?« Ein bitteres Lächeln umspielte seine Züge und er nickte mehrmals, wie ein aufgeregtes Kind, »Ich will loslassen, das will ich, u- um bei dir zu sein. Ich werde mein Leben hinter mir lassen, nicht fälle mir leichter.« Er grinste leicht und zitterte, denn endlich hatte alles seinen Sinn gefunden.
       Die darauf folgende Stille hielt zunächst nur einige Sekunden an, doch wollte sie nicht abreißen. Langsam senkte Rachenblut die Ohren hinab, sagte aber noch immer nichts. Aus Sekunden schienen allmählich Minuten zu werden, daraus Stunden, Tage,... Die Stille schien sich wie ein Dunst aus Nebel zu festigen, umschlang beide Katzen in diesem unwirklichen Schwarz, wie ein klammer Schraubstock.
       »...Nein, nein du Mäusehirn.« Ihr Lächeln verschwamm allmählich und sie wandte sich von ihrem Halbbruder ab. Dieser wiederum glaubte seinen Ohren nicht und verengte mit hilflosem Blick die Augen. Es dauerte lange, bis sich ihm die weise Katze wieder zuwandte. Ihr Ausdruck war jener, mit dem sie ihn als Junge oft angesehen hatte, wenn er einfach nicht verstehen konnte oder wollte; es war das bedauernde, doch liebevolle Lächeln einer großen Schwester.
»...Du warst schon immer ein Sturkopf. Pass auf unsren Kleinen auf. Er hat sich prächtig gemacht, unser Mimikry.«, ein leises Schnurren entfuhr ihrer Kehle, »Du brauchst ihn, das weiß ich, doch mich kannst du loslassen.« Zährenherz schüttelte rasch den Kopf und blickte sie ungläubig an, doch die Kätzin fuhr schon fort, »Das Leben ist kein Fluch, genauso wie der Tod, das wolltest du nie verstehen. Um beides soll man kämpfen dürfen, währenddessen aber nicht darnach. Bitte, genieße, was dir bleibt. Schaue mir nicht nach.«
       Nun endlich machte sie ein paar Schritte auf den pechschwarzen Kater zu, von dem die Dunkelheit nur seine weißen Zeichnungen und seine leeren, nassen Augen nicht verschluckt hatte. Er wich nicht zurück, während sie sich ein allerletztes Mal an den Kater schmiegte, den sie schon immer geliebt hatte. Ihr glänzender, weicher Pelz schmiegte sich sanft an den ilisierend schwarzen ihres Halbbruders und Vater ihres einzigen Sohnes. Dies war die einzige Seele, der sie in ihren viel zu kurzen Leben ihr Herz geöffnet hatte. Schon als Junge war Rachenblut bei ihm als einziger geborgen und er ebenso bei ihr. Sie schworen sich schon früh, füreinander da zu sein, egal was da kommen möge und egal, was die Welt gegen sie beide ausrichten wollte. Niemanden hatte die weiße Katze mehr vertraut. Noch einmal ließ sie all diese wundervollen Erinnerungen Revue passieren, all die Abende, als sie sich gegenseitig getröstet hatten, das Training mit dem Onkel der zwei, wobei sie die Jagd im Gegensatz zu ihm schon bald erlernt hatte, ebenso wie die Geburt ihres Jungen, Mimikry — der Vater hatte sogar noch mehr Angst als sie gehabt, als er das kleine, halbblinde Bündel mit der verwachsenen Tatze erblickt hatte und ihm sofort rasch, doch vorsichtig, als hätte er befürchtet, es würde daran zerbrechen, übers Köpfchen geleckt; einzig die Zuversicht seiner Geliebten hatte dem Kater den Mut gebracht, an sie Stärke des Jungen zu glauben; und nun war es der wohl begabteste kleine Heiler den Rachenblut je sehen durfte —; in diesem letzten Moment erinnerte sich Rachenblut sogar an die kleinen Streite und Raufereien, wie sie bei Geschwistern doch nur nötig waren, und ein letztes verzweifeltes Schmunzeln huschte über ihr Maul, während heiße, silberne Tränen über ihre Wangen flossen und auf Zährenherzens zitterndes Fell hinabtropften. Noch einmal zog sie den schweren Duft des Katers ein, wieauch dieser ihren süßen, allzu vertrauten Geruch genoss.
       Denn gerade weil sie ihn, ihren Halbbruder schon immer schon so geliebt hatte, musste sie ihn gehen lassen, wie auch er sie. Die stolze SternenClan-Kätzin ertrug es nicht, was er sich allein für sie antat und antuen wollte. Er sollte nicht sterben, nicht wegen ihr. Er musste sie vergessen, sie gehen lassen. Der einzige, der sich noch an die weiße Katze erinnert hatte musste sie dort oben vergehen lassen ...und das war auch gut so. So wollte sie ihren ewigen Frieden endlich finden können, wiewohl auch er, während sie wissen konnte, dass er endlich lebte, wie es sich die zwei immer gewünscht hatten. Wenigstens eine dieser tragischen Seelen, sollte diesen Wunsch endlich zur Erfüllung bringen können.
       Mit einem allerletzten, gegauchten »Lebe wohl«, welches in ihrem zitternden Atem fast unterging, verblasste dieses Mitglied des berüchtigten SternenClans langsam an den Kater geschmiegt, den sie so ein letztes Mal versuchte zu retten. Die Dunkelheit und die Kälte nahmen sie als ein Stück seines Ganzen auf, das Weiß verschwamm im eisigen Schwarz und ihre Augen schlossen sich für immer.
      Der Kater blieb alleine zurück, mit seinem schwarzen Fell ein Teil dieses großen Schattens, der aber noch nicht seinen Platz hier hatte.

        Nicht nur das Erste, was er realisierte waren Schmerzen, sondern das Einzige; konstant und allgegenwärtig, doch seltsam teilnahmslos. Dumpf pochten sie, wie ein Puls, der sich seiner vorbestimmten Natur unnachgiebig hingab, sie flossen wie Blut, das zugleich kalt und heiß war. Der Schmerz war wie ein Freund, der schon immer da war, doch letztendlich auch der einzige war, der bis zum Ende blieb. Die Marter wuchs wie ein Geschwür von zerschmetterten Rippen, über gebrochene Beine und Prellungen an diversen Punkten immer größer heran, dass es nicht zu sagen war, wo genau denn ihre Ursprünge waren.
       Der Kater nahm nichts, was geschah um sich wahr. Viel zu sehr war er schon in das Zusammenspiel eines bis zum baldigen Ende geschundenen Leibes und einem müden Geiste, der darin gefangen war, sich aber noch reflexartig wandt und jaulte, wie ein gefangenes Tier, abgedriftet. Dennoch legte er, obwenn mehr aus Reflex, zitternd die schmalen Ohren zurück, als sich die Geräusche der Welt wie zornige, kleine Biester, daran machten, ihn aus seiner Trance zu erwecken. Ihre Lautstärke fühlte sich für den Verwundeten schier beißend und von ungleichmäßigen, tiefen Echos und schnarrenden Nuancen durchmartert. Noch immer lag er da, wie eh und je, denn niemand außer er selbst hatte etwas anderes wahrgenommen als einem geschundenen Körper, der — abgesehen von kaum merklichen Streuben des Pelzes oder schwachen Zittern — reglos verharrte.
       Allmählich stürte er, wie kalt es war und wie sich die kühle, feuchte, festgetretene Erde unter seinem Körper anfühlte. Jeder Atemzug zog eine Schneise aus Tortur hinter sich her, sie vom Brustkorb, über die Lungen, bis in seinen Rachen fuhr, und den davorigen in dieser Eigenschaft übertrumpfen zu wollen schien. Das, obwohl sein Atem noch immer so flach und unregelmäßig war. Für einen kurzen Wimpernschlag versuchte der Kater mit etwas Mühe, seine verklebten Augen aufzuschlagen und für den Bruchteil eines Momentes strömte gleißendes Licht auf ihn nieder und es malträtierte seine Nerven enervierend, obwohl es kaum mehr als fahler Mondschein war. Mehrere Male flackerte seine Sicht so müde auf. Das erste, was er sah, war eine kleine Lache aus dunklem, halbgetrocknetem Rot und er schmeckte nun erst das intensive, aggressive Odium seines eigenen Blutes in seinem Mund. Die Schnauze unangenehm verzogen hob der Kater seinen pochenden Schädel leicht hoch. In seinen Ohren hörte er, wie sein Genick unangenehm knackte, während zugleich sein eigener Herzschlag darin rauschte.
       Als hätte es darauf gewartet floss das Blut nach der Verlagerung plötzlich seinen Rachen hinab, heiß und kalt zugleich. Ehe Zährenherz es sich versah, überkam ihn ein grausiger Würgereflex, sein Innerstes zog sich ruckartig zusammen und er erbrach eine kleine Pfütze Blut in die alte. Ein schneidendes Husten ließ seine Rippen erzittern, die neue, quälende Schmerzen in die gemarterten Nerven jagten.

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