Der erste Schneefall des Jahres kam an einem Samstag, Anfang Dezember. An diesem Morgen gingen Dirk und Ich in die Küche, wo Mom und Dad schon am Frühstückstisch saßen. Dad musste am Samstag nicht arbeiten, weil die Bank, wo er für eine Abteilung verantwortlich war, geschlossen hatte. Mom arbeitete als Sekretärin in Braun's Fabrik, aber nur auf Teilzeit. Sie erzählte den Leuten immer, dass sie den Rest der Zeit brauchte, um die Unordnung zu beseitigen, die wir und Dad in der Wohnung machten. So saß Mom mit Dad am Frühstückstisch mit beiden Händen auf ihrem hervorstehenden Bauch, in dem das Baby war. ,,Schau mal aus dem Fenster'', sagte sie, ,,die Haustür hat ihren weißen Mantel angezogen''. Dirk und Ich gingen zum Fenster hinüber und sahen nach draußen. Dirk sagte, dass er keinen Mantel sehen konnte, aber dort war überall Schnee und war das nicht fantastisch, denn nun konnten wir rodeln gehen und Schneemänner bauen. Tonnen von Schneeflocken fielen vom Himmel, Millionen und Abermillionen. Ich suchte mir eine heraus, die noch weit oben war und beobachtete sie, bis sie auf dem Boden bei den anderen lag. Wir lebten immer noch auf der Ecke der Stadt. Dad's Tante, die, von der wir das Haus in der Stadt erbten, war noch nicht gestorben. Björn war noch nicht geboren und kam bis nächsten April auch nicht. Ich hatte mein Meerschweinchen Fran nicht mehr und Ich traf nur auf Behruz, den fetten Perser, der viel später mein Freund werden würde. Aber Richard war immer noch mein bester Freund. Wir waren echte Blutsbrüder. Ich war sieben Jahre alt und Dirk war sechs. Jedenfalls, wegen all dem frischen Schnee an diesem Tag wollten Dirk und Ich nach dem Frühstück rodeln gehen. Dad brachte unseren Schlitten vom Dachboden herunter. Er bat uns, nicht zu übertreiben und uns nichts zu brechen, wie letztes Jahr, als Dirk in einen Baum krachte und sich den Arm brach. Dirk war viel mutiger als Ich, aber Ich hatte mir wiederum noch nie etwas gebrochen. Einen Sommer beiseite genommen, als Ich mit meinem Fahrrad irgendwie gegen eine Straßenlaterne gefahren war. Ich schlug mir zwei Zähne aus und schluckte sie. Aber es war nicht ganz so schlimm, weil es nur Milchzähne waren. Während Dad den Schlitten holte, packte Mom uns in warme Sachen ein. Wir mussten Handschuhe und unsere Bommelmützen anziehen. Zum Schluss wickelte Mom uns die großen, dicken Schals, die Großmutter für uns gestrickt hatte, um unsere Hälse. Großmutter war Mom's Mutter. Meistens gab es Ärger, wenn sie zu Besuch kam, denn Dad konnte sie nicht ausstehen. Großmutter erzählte uns immer, dass in seiner Jugend ein richtiger Flegel war. Er versuchte, auf seinem Motorrad fahrend, die ganzen alten Leute zu erschrecken und sie würde niemals verstehen, warum Mom solch einen idiotischen Angeber geheiratet hatte. Großmutter mochte es, Geschichten aus den alten Zeiten zu erzählen. Ihre Lieblingsgeschichten waren alle darüber, wie sie ihre Tante Gertrud auf ihrem Rücken tragend über die nach dem Krieg ausgebombten Ruinen lief. Sie tat mir jedes mal leid, wenn sie uns das erzählte, denn Tante Gertrud war wirklich, wirklich fett.
Dad's Mutter starb, bevor Dirk und Ich geboren wurden und Großväter hatten wir schon keine mehr. Also legte Mom uns die Schals um die Hälse und bat uns, vorsichtig zu sein und uns keine Knochen wieder zu brechen und keine Zähne zu verlieren. Und dann wurde uns endlich erlaubt, zu gehen. Nur fünfzehn Minuten von unserem Haus entfernt gab es ein großes Feld mit einer wirklich langen Schlittenbahn, die den ganzen Weg hinunter zum Bach führte. Dorthin gingen Dirk und Ich. Der Schnee war ganz hoch aufgetürmt und als wir das Feld erreichten, schneite es immer noch. Es war überall sehr kalt und still. Der einzige Ton kam von den Schneeflocken, die still auf den Boden fielen und von unseren Stiefeln, die durch den Schnee stapften. Wir kletterten die Schlittenbahn hinauf und Ich zog den Schlitten hinter mir her.
Als wir den Gipfel erreichten, wollte Dirk natürlich das steilste Stück hinunterrodeln, das Stück, das zum Bach führte. Sofort dachte Ich, dass die Dinge gebunden waren, schiefzugehen, aber Ich sagte nichts, damit Dirk nicht dachte, Ich wäre ein Feigling. Wir setzten uns auf den Schlitten. Dirk vorn und Ich hinten. ,,Festhalten‚'' rief Dirk, ,,Wir kommen!'' Es war fantastisch, und vor allem fantastisch schnell. Der Wind rauschte mir um die Ohren, Schneeflocken klatschten mir ins Gesicht und Ich konnte kaum etwas sehen, weil Ich meine Augen fest zugekniffen hatte. Wir wurden schneller und schneller und Dirk rief, er sei der beste Rodler auf der Welt und Ich rief, wann wir endlich unten ankommen würden, weil Ich nichts sehen kann. Dann gab es einen großen Knall. Ich segelte kurz durch die Luft, es gab einen Absturz und Ich landete mit meinem Gesicht unten im Schnee. Es schmerzte mächtig und brannte, aber schließlich hatte Ich mir nichts gebrochen. Dirk war nicht da. Auch der Schlitten nicht. Ich sah mich um und hörte Dirk aus dem Bach rufen. Er saß mitten darin, mit dem Schlitten neben ihm, klatschnass bis auf die Haut. Gott sei Dank war der Bach dort nicht besonders tief. Aber das Ufer war ziemlich hoch, mindestens einen Meter hoch. Ich musste lachen, weil Dirk mit seiner Bommelmütze auf dem Kopf so lustig aussah. Aber er war wirklich wütend und schrie, dass er nicht sehe, was so lustig wäre, dass Ich nicht richtig gesteuert hätte, Ich ein Idiot wäre und in Zukunft zu Hause bleiben und Schneemänner bauen solle. Ich rief zurück: ,,Selber Idiot, du bist zu dumm, um Schlitten zu fahren!'' und Ich sagte, wenn er seine Klappe nicht halte, könne er seinen eigenen Weg aus dem Bach suchen. Dirk rief, dass Ich abhauen und ihn ganz alleine zurücklassen sollte, dann würde er einfrieren und es würde kein Weihnachten und wahrscheinlich auch kein Neujahr geben, weil alle in Trauer wären. Ich heuchelte, darüber nachzudenken und dann sagte Ich ,,Na gut, Ich hol dich raus – aber nur wegen Weihnachten!'' Ich hielt mich mit einer Hand am Ast eines kleinen Baumes fest. Ich streckte die andere Hand nach Dirk aus. Ich kam nicht ganz heran und es war rutschig wegen dem Schnee, aber der Ast brach nicht. Dirk griff meine Hand und alles wäre gut gewesen, wenn er sich nicht über den Schlitten gelehnt und auf mich losgegangen wäre, der Fiesling. Der Ast machte ein knackendes Geräusch und brach, und Ich fiel den Abhang hinunter in den Bach. Ich hätte geschrien, aber mein Mund war bereits voll mit Wasser. Es war eiskalt. Ich war so geschockt, dass ich nur schwer atmen konnte. Als ich mich aufgerappelt hatte, stand Dirk neben mir und lachte sich in Stücke. Ich war so sauer, dass ich ihn mit meinem nassen Handschuh schlug. Dirk hörte auf zu lachen, schlug mich zurück und ehe wir uns versahen, kämpften wir beide im Wasser. Wenn es nicht so frostig kalt gewesen wäre, hätten wir bestimmt noch viel länger gekämpft, aber wir konnten einfach nicht. Wir mussten sehr Zeit stromabwärts laufen, bis wir eine Stelle fanden, an der wir herausklettern konnten. Dann hatte es aufgehört zu schneien, aber es war windig und wir zitterten in der Kälte. Ich hatte Angst, dass wir zwei erfrieren würden und dastehen würden wie Eiszapfen. Niemand würde uns in unserem gefrorenen Zustand wiedererkennen und Mom und Dad müssten die Polizei rufen, damit sie nach uns suchen. Es würde Monate dauern, bis sie uns finden würden und dann würde Frühling sein, und inzwischen würde auf jedem einzelnen von uns Gras wachsen und wir würden aussehen, wie Büsche im Schnee. Ich wollte glatt weinen, aber in dem starken Frost schloss ich meine Augen. Es war fürchterlich und obendrein machte Dirk sich noch in die Hose. Als wir nach Hause kamen, war Mom wirklich wütend. Sie zog uns die nassen Sachen aus und setzte uns in ein sehr heißes Bad. Mom sagte: ,,Weil ihr so dumm seid und nicht auf euch aufpassen könnt, verbiete ich euch Rodeln für die ganze nächste Woche. Dirk fing an zu weinen, aber ich dachte, naja, der dumme Schlitten steckt ja sowieso in dem Bach. Und das sagte ich Dad, als der nach dem Schlitten fragte, und dann war er auch sauer. Er sagte, wir waren selbst schuld, wenn wir nur die Erlaubnis hätten, die nächste Woche nur Schneemänner zu bauen. Aber er ging den Schlitten holen, während Mom Dirk und mich in unsere Schlafanzüge steckte und uns ein Bett auf der Couch im Wohnzimmer machte. Sie gab uns auch eine Wärmflasche für unsere Füße. Sie grinste und sagte, dass wir dumm waren, aber dass sie uns dennoch lieb hatte, und deshalb ging sie uns eine heiße Schokolade machen. Als Dad mit dem Schlitten zurückkam, mussten Dirk und ich Mom und Dad genau erzählen, wie wir in dem Bach gelandet waren und wie wir uns gestritten hatten und alles. Naja, sagte Dad, etwas Ähnliches passierte mit ihm , als er jung war. Und er erzählte uns, wie er, als er noch ein Kind war, im Dorfteich landete, während er mit seinem Bruder, Onkel Alfred, rodelte. Sie flogen über eine Ente auf dem gefrorenen Teich, bevor sie in das Eis einbrachen, und die Ente war in das Loch gefallen und ertrunken, und sie kam nie wieder nach oben. Mom sagte: ,,Peter! Erzähl den Kindern nicht solche schrecklichen Dinge!'' Das sagte, das wäre nicht schrecklich gewesen. Das Schreckliche war, dass der Partner der Ente, der Erpel, über den Verlust seiner Geliebten so außer sich gewesen sein muss, dass er ihr in das Loch hinterhersprang. Und ein Jahr danach war neben dem Teich an dem Platz, an dem die Enten sich immer geküsst hatten, ein Busch gewachsen, und Enten von überallher kamen zu dem Teich und schwammen schnatternd im Kreis. Das ist, was passiert ist, sagte Dad und trank etwas von seiner heißen Schokolade. ,,Quack, quack", sagte Dirk. Und er flatterte mit den Armen, als wenn er fliegen wollte. Er stieß gegen seine Tasse und verschüttete die Schokolade auf die Tischdecke.,,Mann!",sagte Mom. Sie rollte mit den Augen, legte eine Hand auf ihren hervorstehenden Bauch und lachte. Zwei Tage später durften Dirk und ich wieder Schlitten fahren.
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Mein Bruder und Ich
Teen FictionUND NACH ALLEM WAR ES WIRKLICH TOLL, EINEN KLEINEN BRUDER ZU HABEN. WIR WOLLTEN IHN NICHT WIEDER HERGEBEN. NA GUT, SEINE OHREN VIELLEICHT Passt alle auf: Andreas und Dirk kommen! Und wenn diese zwei Brüder auf Achse sind, können die Dinge etwas ve...