Ich schreibe den 26. Juni 1996, als der ganze Horror begann. Ich möchte nicht sagen, dass ich ganz unschuldig an dieser Miesere bin, aber als Robert Mills zum ersten Mal in meine Klasse kam, mit seinen vollgepackten Schulranzen, aus dem schon einige Bücher hinausfielen, wusste ich, dass dieser Mensch eines meiner Freunde werden könnte. Stephen Sims war eines der schlimmsten Mitschüler, die sich eine Middle School vorstellen könnte, und ich konnte Robert verstehen, dass er nach der Ausbeute von Sims eigentlich gar nicht mehr erscheinen wollte. Ms. Stanley, die begehrteste aller Lehrerinnen der Zehnjährigen, fragte mich des Öfteren, was uns denn solch eine Angst mache. Keiner der sechzehn Schüler bekam den Mund auf. So wurde das Eis in der Norwich Middle School immer dünner. Stephen Sims war ein ekliger Fettwanst, wahrscheinlich war er selbst so unentschlossen und innerlich zerbrochen, dass er sein Leid auf andere übertragen musste, die nichts dafür konnten. Er hatte kurze Haare, die zu einer Art Topfschnitt verliefen und soweit ich weiß, lebte er mit seinem Vater und zwei Brüdern in den Barracken außerhalb der Stadt. Robert, der kleine Junge, den es schon am ersten Schultag nach dem Umzug gereicht hat, kam am nächsten Tag wieder. Und ab da beginnt erst der Wahnsinn, den ich euch nun erzählen möchte.
Wir saßen gerade im Matheunterricht bei Mr. Barrett, der seine große Hornbrille auf der Nase sitzen hatte, wie jedes Mal. Robert saß neben mir und musste grinsen. „Es gibt keine schönere Art zu rechnen, als die Punkt-Vor-Strich-Rechnung. In solchen Kettenaufgaben..." doch ich hörte nicht weiter zu, denn Robert schob mir einen Zettel zu. Ein kleines Stück Papier, mit den wenigen Worten Nach der Schule? Ich blickte ihn an und nickte ihn zu. Seine blonden Haare fielen über seine Stirn. „...Also warum sollten wir das beachten Mr. Wells?"
Ich schluckte. Er hatte mich, Eddie Wells, angesprochen. Jeder wusste, wie streng er wurde, wenn man ihn nicht zuhörte. Das kam mir nicht zugute. „Zum Direktor", waren seine einzigen Worte. Ich stand auf und ging seufzend zur Tür. Als ich auf den Weg zum Direktor war, bekam ich ein merkwürdiges Gefühl. Ich hörte auf den gefliesten Gang flüsternde Stimmen. Vielleicht waren sie auch lauter. Sie kamen zweifellos von der Jungs Toilette. Ich war schon immer neugierig. Ich sah mich um. Es war keiner im Gang, also presste ich mein Ohr auf die Wand und versuchte Gesprächsfetzen aufzufangen. Ich glaube es war Sims. Zu dem Zeitpunkt gingen Gerüchte herum, dass Sims eine Schwuchtel sei und auf Männer stand. Ich war aber nicht so voreingenommen, also hielt ich mich aus dem ganzen raus. Jeder, der diesem Gerücht Glauben schenkte und es weiter verbreitete, bekam von Sims und seinen Freunden- wie er so schön betonte- auf die Fresse. Ich war verwundert, dass ein Dreizehnjähriger so viel Wut und Verachtung in sich tragen konnte.
„Dieses miese Drecksschwein. Ich werde Mills umbringen. Ich lasse mich nicht als Schwuchtel bezeichnen..."
Mein Herz schlug höher und ich entfernte mich von der Wand. Ich musste sowieso zum Direktor. Ich wusste, dass Sims nicht gerade der sanfteste war. Als ich letztlich vor der Milchglastür des Direktors stand, kam mir die Frage auf, ob ich über Sims Gespräch unterrichten sollte. Ich klopfte. Dann kam ich in das große, mit viel Buche eingerichtete Büro herein. Unser Schulleiter Mr. Connor, unser farbiger Schulleiter mit seiner polierten Glatze, starrte auf den Bildschirm seines Computers.
Meine Stimme war trocken und wirkte brüchig. „Mr. Conner?"
„Ah, Mr. Wells, setzen Sie sich."
Er blickte über seinen PC hinweg und lächelte mich an.
„Wie kann ich Ihnen helfen?"
Ich blickte ihn an. „Ich habe Mist gebaut. Ich habe im Unterricht von Mr. Barrett nichts aufgepasst. Ich kann Ihnen aber auch sagen, wieso!" Doch Mr. Conner lachte nur und seine blendend weißen Zähne kamen zum Vorschein. „Mr. Barrett ist bekannt für seine starken Übertreibungen. Wissen Sie..."
Doch meine Gedanken schweiften abermals ab. Ich werde Mills umbringen. Ich werde Mills umbringen. Drecksschwein.
„Mr. Wells, ist alles in Ordnung mit Ihnen?" Ich nickte. Ich muss ihn davon erzählen. Aber wie? „Mr. Conner, ich habe ein wenig Angst."
Er legte seinen Kopf ein wenig schief. „Ich habe vorhin etwas mitbekommen. Es war auf dem..." Doch nun wurde ich unterbrochen, denn das Telefon klingelte. Was sollte ich als Elfjähriger machen? Ich hatte keine Gewalt, über das, was passierte.
„Ja, Jonah Conner von der Middleschool in Norwich, was kann ich für Sie tun?" Er nickte mir lächelnd zu, was soviel bedeutete, dass ich mich nun entfernen sollte. Also ging ich wieder, nichts ahnend, dass mir Sims entgegen kam. Er war knallrot im Gesicht und eine Krampfader zeichnete sich an seinem Hals wider. Er rannte mehr oder weniger auf mich zu, aber schien mir keine weitere Beachtung zu schenken. Das war positiv, denn ich spürte überall die Aufregung und vor allem die Angst. Was auch immer sein mochte, es konnte wie jedes Mal, nichts Gutes verheißen.
Der weitere Mittag verlief entspannt und es gab keine weiteren Vorfälle. Monica Lewis, die Klassenbeste sahnte sich eine weitere Eins auf dem Zeugnis ab. Ja, es ging Richtung Ferien. Als zum Schluss der Gong ertönte. Robert, der heute besonders still war, war als erstes draußen. Ich schnappte mir meine restlichen Bücher und rannte hinterher.
Der Weg nach Hause war Zwölf Minuten lang. Robert war immer noch still und ich kam nicht drumherum zu fragen, was los sei.
„Nichts", sagte er bloß und trat einen Stein weg, „Was soll auch sein?"
Ich zuckte mit den Schultern und trat noch einmal den Stein. „Du bist einfach still, Rob"
Mir brannte die Zunge, denn mir kam Sims und seine Worte wieder in den Kopf. Sie brannten sich ein, wie ein Brandeisen in das Gesäß eines jungen Bullen. Ich werde Mills umbringen. Ich wollte es Robert sagen, aber ich traute mich nicht. Wir liefen die lange Hauptstraße runter und es begann zu Regnen.
„Hör zu, Eddie", flüsterte Robert in einer eigenartigen Tonlage, „Ich möchte dir etwas zeigen, du darfst es aber keinen verraten. Ich möchte dir auch noch etwas erzählen."
Er zog mich an meinem T-Shirt mit dem Batman-Logo in Richtung einer kleinen Nebenstraße. Als heranwachsender Junge befürchtet man nicht das schlimmste- er hätte mir auch genauso gut ein Sammelalbum für Footballsticker zeigen können. Wir gingen auch noch ein Stück weiter, denn Rob fühlte sich beobachtet. Dann stellte er seine Schultasche ab, ließ die Schnallen mit einem leisen Klick aufgehen und wühlte. Er wühlte mit einer merkwürdigen Ruhe.
„Hier", sagte er lächelnd und hielt Triumphierend einen Knäuel aus Küchentüchern hoch.
„Nimm es."
„Rob, sag mir doch einfach was es ist", erwiderte ich und bekam das zweite Mal heute ein seltsames Gefühl von Unbehagen. Es fühlte sich weich an unter diesen Berg aus Tüchern. Er grinste mich erwartungsvoll an. Ich seufzte und befreite das Etwas. Meine Nackenhaare sträubten sich, als mir der Kopf einer übel zugerichteten Taube auf die Schuhe fiel. Blut sickerte und ich musste mich übergeben. Rob lachte fürchterlich laut, als hätte jemand den Witz des Jahrhunderts gerissen. Ich blickte mich um und schmiss die vollgekotzten und blutverschmierten Tücher zu Boden. Meine Großeltern hassten es, wenn ich fluchte, aber jetzt war es mir egal. „Verfluchter Scheiß, was zur Hölle soll das, Robert?", überkam es mich und ich wich noch weiter zurück. Er lachte immer noch, fast hysterisch. „Das soll doch nur für Fettwanst sein. Ein Geschenk."
Ich schüttelte den Kopf.
„Tut mir leid, Rob, aber ich muss jetzt nach Hause"
„Warte! Ich muss dir noch was sagen. Ich stehe auf Ann. Hast du jemals daran gedacht, wie es ist, wenn du ihn in ihr reinsteckst?"
„Robert!" Nun hörte ich mich hysterisch an, verängstigt. Ja, ich hatte Angst und diese kochte in mir. Der Regen prasselte immer weiter auf uns ein und es verwischte mittlerweile das Blut und mein erbrochenes. Dieses Ereignis sollte ich die nächsten Wochen nicht vergessen. Ich rannte also nach Hause.
DU LIEST GERADE
Black Eyed
Mystery / ThrillerDie Seele des Menschen ist unergründlich. Man kann sie nicht erfassen, man kann sie nicht sehen. Doch man kann es erahnen, wie es einen geht, wenn man eine gewisse Menschenkenntnis besitzt. Ich, Eddie Wells, habe ein großes Problem- ein Problem, wel...