Brief eins

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Ich sehe es immernoch vor mir. Vor meineminneren Auge. Die Schüsse. Die Menschenmassen. Innerhalb von nureiner Sekunde in totale Panik versetzt. Ich werde es nie vergessenDas Bangen um das eigene Leben. Ich fühlte mich so taub undgleichzeitig so voll von Gefühlen. Ich denke, man kann es so sagen,dass ich in der Sekunde des Schusses taub war, wie erstarrt. Gefolgtvom Wille des Überlebens, das panische Losrennen, die Wut, Angst undnicht zu vergessen, das Adrenalin.



Noch heute kann ich die Bilder vor meineminneren Auge sehen. Ich werde es nie vergessen können. Wie ich fastmein Leben verlor. Die schrecklichen Sekunde, in denen die Schüssefielen, fühlten sich an wie Tage. Dann explodierte in einem anderenTeil der Stadt eine Bombe. Weitere Panik. Dann legte sich eine Stilleüber die Stadt, bis man den Notarzt näherkommen hörte.



Sie brachten auch mich in ein Krankenhaus.Ich war nicht verletzt - körperlich. Ich stand unter Schock - nacheinigen Tagen durfte ich wieder gehen. Der Mann, der bei mir mit imZimmer lag, verstarb während dieser Tage. Ich hörte das Schreienseiner Frau, als man es ihr beibrachte. Erst die Schreie und danndiese unheilvolle Stille. Immer und immer wieder. Ich bin mit diesemPhänomen vertraut. Erst das langsame Realisieren dass dieser Menscheinfach weg ist - daraus resultiert der laute Schrei, weil er einfachschmerzhaft aus deinem Leben gerissen wurde. Dann die stille Trauer.Es ist eine Endlosschleife.



Auch ich weiß wie es ist, jemanden zuverlieren. Jahre zuvor verlor ich jemanden. Meine geliebte Oma. Sieging so plötzlich. Veilleicht ja, jeder verliert seine Oma, doch fürmanche ist es prägender als für Andere. Mehrere andere Freundeverlor ich fast durch Suizidversuche. Alle sagen immer das Lebenerfüllt einen selbst mit Liebe und Glück und vielen guten Sachen.Doch ist es nicht ironisch, wie man in seinem Leben, vom Tag seinerGeburt an, jedes Mal ein bisschen mehr stirbt. Also ist das Lebenselbst nicht wie leben, es fühlt sich an wie sterben.



Und mittlerweile ist mein Leben so weitvorrangeschritten. Ich bin kurz davor, meine zweite Oma zu verlieren.Ich bin durch eine harte Zeit gegangen. Auch wenn es jetzt wieder gangut aussieht, ein Teil von mir ist bereits so oft gestorben. Wenn manGlück hat lebt man ein langes und erfülltes Leben, doch wenn manPech hat stirbt man Tag für Tag, jedes Mal ein kleines Bisschenmehr. Ich weiß wovon ich rede, ich bin seit meinem zwölftenLebensjahr jeden Tag ein bisschen mehr gestorben. In dem Moment, indem man wieder stirbt, lächelt man, denn du weißt in diesem Momentnichts weiter anzufangen. Dein Körper verweigert jede Reaktion. Alsolächelt man, denn man weiß in dem Moment keine andere Methode,damit niemand nach dem Schmerz fragt.

little letters for myselfWhere stories live. Discover now