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„Amy!“

Ich hob die Hand ohne mich umzudrehen und hätte dabei beinahe meinen Kaffee verschüttet, den ich erst vor ein paar Minuten, in einem Pappbecher, gekauft hatte.

Die Straßen Londons waren um die frühe Uhrzeit lediglich von gestressten Anzugsträgern und verrückten Vögeln bevölkert. Doch wenn man in diesen Jahren in die Polizeiarbeit einsteigen wollte, durfte man sich davon nicht abschrecken lassen.

Und so bahnte ich mir tapfer einen Weg durch die Menge, wobei ich meinen Becher vorsichtig vor mir hertrug. An der nächsten Straßenecke wartete ich auf Beck. Er war mit mir für den Außendienst eingeteilt worden und bisher hatten wir noch nicht viel miteinander gesprochen.

Ich wusste lediglich, dass er ein Mann, der die besten Jahre wahrscheinlich noch vor sich hatte, war. Außerdem trug er einen Ehering am rechten Ringfinger und war stets sorgsam gekleidet. Vermutlich packte ihm seine Frau auch etwas für die Mittagspause ein.

„Wohin geht's diesmal?“, wollte ich neugierig wissen, sobald er sich zu mir durchgekämpft hatte.

Wortkarg deutete Beck mit dem Kinn in eine vage Richtung, die überall sein könnte und übernahm dieses Mal die Führung. Eilig stolperte ich ihm nach und fluchte leise vor mich hin, als ich mir dabei ein Schluck meines schwarzen, heißen Kaffees über die Finger verschüttete.

Die Kopfsteinpflaster waren aber auch fiese Biester! Mit deutlich mehr Vorsicht heftete ich mich nach einigen Sekunden des Schreckens erneut an Becks Fersen und fragte mich, was uns wohl erwarten würde. So genau konnte man das nie vorhersagen, aber da wir nicht die ermittelnde Mordkommission der brutalen Ermordungsserie an den Frauen waren, bezweifelte ich, dass wir eine Leiche zu Gesicht bekommen würden.

Doch als wir offenbar nur noch wenige Schritte vom Tatort entfernt waren, bekam ich die ersten Zweifel an meiner zu anfangs felsenfesten Überzeugung. Eine Traube Menschen hatte sich um etwas versammelt und tuschelte aufgeregt untereinander. Manche von ihnen sahen regelrecht verstört und verängstigt aus.

Der Knoten in meinem Magen zog sich fester.

Einige schluchzten aufgeregt, aber niemand kreischte hysterisch. Das war doch wohl hoffentlich ein gutes Zeichen?

Beck bahnte uns mit der Autorität eines Polizisten einen Weg durch die Menge und brachte uns direkt an den Ort des Geschehens.

Bevor ich einen Blick auf den Tatort warf, sah ich mich flüchtig in den Gesichtern der Menschen um, aber niemand erwiderte meinen Augenkontakt.

Wir hatten kurz zuvor einen Anruf von der Zentrale bekommen und waren losgeschickt worden, weil wir als einzige bereits vor Ort waren. Genaueres über die Situation die wir vorfinden würden hatte niemand gesagt.

Langsam musterte ich Beck von der Seite, da er sich die ganze Zeit über kaum gerührt hatte. Nicht mal mit der Wimper gezuckt. Als hätte ihn etwas versteinern lassen. Der Knoten in mir verwandelte ich in eine bleischwere Masse, die mir auf den Magen drückte.

Was auch immer ich gleich sehen würde; es würde keinesfalls angenehm werden.

Innerlich gab ich mir einen entschlossenen Ruck und ließ mir meine Unsicherheit nicht anmerken. Doch kaum hatten meine Augen die zerstümmelte Leiche entdeckt, drehte sich mein Magen um und ich befürchtete jeden Moment mein Frühstück nach oben zu befördern.

Es war eine Frau. Ihre blauen Augen starrten im blinden Entsetzen in den inzwischen grauen Himmel. Aber ihr Gesicht war auch schon so gut wie als einziges verschont geblieben.

Jemand - der Mörder - hatte ihr sämtliche Kleidung vom Leib gerissen und ihren gesamten Oberkörper von der Bauchdecke bis zum Unterleib aufgeschlitzt und alle Gedärme bloß gelegt. Bis auf die Eierstöcke und die Gebärmutter. Diese lagen verstreut um den Kopf der Ermordeten.

Obwohl ich von der anhaltenden Mordserie gehört und auch gelesen hatte, war mir nicht bewusst gewesen, wie nah der Mörder uns eigentlich schon war. In diesen Zeiten war jetzt wohl keine Frau mehr sicher, wenn dieser mordende Frauenhasser hier sein Unwesen trieb.

Ein kalter Schauer fuhr mir über den Rücken und meine Härchen stellten sich auf. Prüfend lies ich meine Augen ein weiteres Mal durch die Menschentraube wandern und prägte mir jedes einzelne Männergesicht ein. Auch wenn ich bezweifelte, dass Jack the Ripper sich in dem Moment unter uns befand.

X

Bald darauf traf endlich die Mordkommission ein und übernahm ihren Job. Jedoch waren Beck und ich wohl doch noch nicht so schnell abgeschrieben und mussten Zeugen befragen.

Die meisten Aussagen waren unbrauchbar und völlig übertrieben. Manche wollten gellende Schreie vom Opfer und Flüche des Mörders gehört haben. Andere wiederrum waren bloß hierher gekommen, weil immer mehr Leute auf diesen Ort zugeströmt waren.

Sie alle waren potenzielle Lügner und gefährlich. Aber Beck schüttelte nur den Kopf, als ich ihm meine Ansichten mitteilte und beschloss, dass wir uns an dieser Stelle zurück zogen.

Das hieß wieder langweilige Büroarbeit für mich und endlosen falschen Gerüchten aus der Zeitung zu folgen.
Aber egal wie sehr ich auch versuchte ihn umzustimmen, Beck ließ sich kein bisschen erweichen und blieb standhaft.

Darum folgte ich ihm schließlich murrend zurück zu dem Auto, wurde aber kurz bevor ich aus der Menschenmenge heraustreten konnte festgehalten. Eine starke Hand umschloss meinen Oberarm, als wäre er nicht dicker als ein Hühnchenknochen.

Mein Herz zog sich für einen Moment erschrocken zusammen, bevor ich mich mit eisernem Blick umdrehte. Ein alter Mann mit seniler Ausstrahlung starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an.

„Verschwinden Sie von hier! Solange Sie es noch können, Miss.“

Mit gerunzelter Stirn machte ich mich von ihm los, aber er verschwand, als ich nach einer Antwort verlangen wollte. Achselzuckend machte ich mich ebenfalls auf den Rückweg zu Beck und ignorierte das mulmige Gefühl, das in mir aufstieg.

In dieser und auch in der nächsten Nacht schlief ich nicht gut und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Albträume schreckten mich auf und ließen mein Herz rasen. Aber ich drängte meine Sorgen und Ängste in die tiefsten Abgründe meines Kopfes und hoffte, dass sie dort bleiben würden, anstatt mich zu quälen.

Das Rätsel um Jack the Ripper ließ mich nicht los. Und offenbar hielt es nicht nur die Polizei, sondern die ganze Stadt in Atmen.

So sehr, dass die Mordkommission am darauffolgenden Dienstag eine Notbesprechung einberief, in der auch Beck und ich zu erscheinen hatten. Denn von nun an gehörten wir offenbar zum Team, was Beck gar nicht zu gefallen schien.

X

Bis zum nächsten Monat geschah nichts. Und in dem darauf auch nicht.

Doch die trügerische Ruhe vor dem Sturm hielt nicht lange an. Denn der Mörder konnte seinen Blutdurst anscheinend nicht lange unter Kontrolle halten.

Sein Pech, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht weit von seinem Tatort entfernt war.

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2. Oktober

Halloween Edition [☠]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt