Fliederträume

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Der süße Duft von Flieder schwängerte die Luft, benetzte meine Sinne und füllte meine Lungen, als ich tief einatmete. Das Gefühl inmitten der mannshohen Sträucher zu stehen, die Sonne bei ihrem letzten Kampf gegen die Nacht aufglühen sehen und das abendliche Surren der Insekten in der Luft zu hören, war einfach nur überwältigend. Mein Kopf war komplett leer und frei von störenden Alltagsproblemen und Sorgen, welche in diesem Moment unwichtig waren. Nur der Garten hinter dem Backsteingebäude, mit den großen ausladenden Fenstern, ließ meine Seele zur Ruhe kommen und mich träumen. Er regte meine Fantasie an, ließ mich von Dingen schwärmen, die nur in den unendlichen Weiten meiner Gedanken real waren. Seelig lächelnd setzte ich mich unter meinen Lieblingsflieder auf saftig grünes Gras und schloss für einen Moment die Augen. Den Trubel vor dem Gasthaus hinter mir stellte ich komplett ab, ließ keine Gedanken an meine Aufgaben dort zu. Blinzelnd öffnete ich meine Augen wieder und starrte durch die im Kreis angeordneten Fliederbäume hinweg auf die sanft geschwungenen Hügel, die sich endlos in der Ferne erstreckten. Die Sonnenstrahlen lugten über sie hinweg und ließen die Umgebung malerisch wirken.

Und dann sah ich ihn.

Der Mann, der mein Herz höher schlagen ließ und meinen Körper in wohlige Schauer versetzte. Er stand da und sah, genau wie ich, in die Ferne. Sein Aschblondes Haar wiegte leicht im Wind und strich hin und wieder über seine breiten Schultern, liebkoste seinen kräftigen Hals. Ich sehnte mich danach, anstelle von seinem langen Haar zu sein, ihn zu berühren und liebkosen. Meine Finger zitterten bei der Vorstellung und mich überlief ein köstlicher Schauer. Er trug ein weißes Leinenhemd, das straff über seinen Muskeln lag und keinen Platz für Fantasie mehr ließ. Seine langen muskulösen Beine steckten in braunen einfachen Hosen. Seine Füße waren nackt und standen in dem frischen Gras. Vermutlich spürte er die Nässe von dem gestrigen Unwetter an den Zehen. Dieser Sturm war erschreckend heftig gewesen, mit dem vielen Platzregen. Ich konnte sein Profil erkennen, die kräftigen Kiefermuskeln und das markante Kinn. Seine eckige Nase mit dem Hubbel, der von einem vergangenen Bruch zeugte. Die hohe Stirn war glatt und von keinen Falten geprägt, seine Augen geschlossen. Er hatte die Arme an den Seiten hängen und die Hände locker, entspannt geöffnet. Die schlanken Finger, die großen Handflächen. Ich fühlte beinahe die Schwielen an ihnen, die von harter Arbeit zeugten. Das Blut pulsierte in meinen Adern, heiß und schwer. Mich zog ein Kraft nach oben auf die Beine, von der ich nicht sicher war woher sie stammte. Eben jene trieb mich mit langsamen Schritten auf den Mann zu. Ich durchbrach den Kreis aus Flieder, den ich eigens als ich klein war, unter den wachsamen Augen meiner Mutter angepflanzt hatte. Nun waren die Sträucher nur noch eine Erinnerung an sie. Meine eigenen nackten Füße berührten nun das gleiche Gras, auf dem auch er stand. Es war, als stünde er unter Strom, als zöge er feine Adern aus Strom durch die Erde zu sich. Als zöge er mich zu sich. Plötzlich drehte er sich zu mir um, als spüre er meine Anwesenheit auf seinem Gras. Die Sonne strahlte ihn von hinten an, sodass er nur als schwarzer Schatten zu sehen war. Ich konnte nur seinen Umriss sehen und stürzte aus Angst, er könnte nicht real sein, auf ihn zu. Mein Kleid flatterte hinter mir her. Meine Muskeln brannten unter der plötzlichen Belastung. Noch nie war ich in solch einer Geschwindigkeit gerannt. Ich hatte vor Panik ihn nicht zu erreichen, den rechten Fuß zu schnell nach vorne gesetzt und stolperte nun fast. Mein Arme ruderten wild umher, versuchten etwas zum Festhalten zu finden. Doch da war nur Luft und Sonne - und so viel ich prompt nach vorne. Ich landete in dem kühlen Gras. Meine Atmung unregelmäßig, mein Herz zu schnell. Mein Gesicht schwebte nur Zentimeter über dem Boden vor mir und eigentlich wollte ich so schnell wie nur irgend möglich weiter zu ihm, doch mein Körper weigerte sich auch nur einen Muskel zu rühren. Mein Unterbewusstsein hatte zu viel Angst davor, dass er weg sein könnte oder vielleicht über mich lachen würde. Schamesröte stieg mir ins Gesicht und ließ es brennen. Meine Tollpatschigkeit hatte schon zu so manch einer Katastrophe geführt. Würde es nun auch so sein? Würde er fort sein?  Zwei nackte Füße tauchten plötzlich wenige Meter vor mir auf. Ebenso eine große männliche Hand, die sich zu mir runter streckte. Zögerlich und auch überfordert hob ich den Blick. Da war er. Hatte sich zu mir runter gebeugt, um mir hoch zu helfen. Erleichterung durchflutete mich. Er war noch da, war nicht gegangen. Seine warmen braunen Augen ruhten auf meinem Gesicht und seine vollen rosafarbenen Lippen verzogen sich ganz leicht zu einem Lächeln. “Nimm meine Hand.” Seine tiefe warme Stimme hallte merkwürdig. So als wären wir in einem leeren riesigen Raum und würde dort unser Echo hören. Zögerlich nahm ich seine Hand und ließ mir helfen. Seine starken Finger umschlossen meine sanft, aber fest. Sie waren warm und ich fühlte mich in seiner Gegenwart sicher.
Nun stand ich vor ihm. Meinem Mann. Ich hoffte so sehr er wäre es irgendwann. Er lächelte immer noch, zog mich näher zu sich und ich atmete tief ein. Er roch nach sattem Flieder. Meinem heißgeliebten Flieder und ein Hauch nach Lavendel. Er roch einfach köstlich. Ich kam noch einmal in den Genuss seiner schönen Stimme als er raunte: “Hörst du es?” Ich lauschte. Und tatsächlich hörte ich zarte Klänge. Harfe und Violine, erkannte ich. Die Töne waren weich und äußerst melodisch. Ich blickte ihn wieder an und nickte lächelnd. Er erwiderte es und legte meine freie Hand auf seine Schulter, unter der ich seine harten Muskeln spürte. Seine Hand landete auf meiner Taille und seine Wange schmiegte sich an die meine. Kleine Bartstoppeln kratzten über meine empfindliche Haut. Ich genoss dieses Gefühl und schloss die Augen, während er begann mich leicht  im Takt der Musik zu führen. Er war bestimmend aber nicht fordernd, stark aber sanft. Es fühlte sich an wie im Himmel. Ich sprudelte nur so über vor Glück. Es war das schönste was ich in meinem bisherigen Dasein erleben durfte. Ich fühlte mich frei, lebendig. Einfach so glücklich. Und dies war er. Er machte das mit mir. Als die Musik schneller wurde, wirbelte er mich über die Wiese. Bog, drehte mich. Ließ mich einfach schweben. Und so tanzten wir, ohne überhaupt ein Wort zu sagen, über das Gras. Bis in die Nacht hinein. Der Sternenhimmel über uns war riesig und die kleinen funkelnden Punkte sahen aus wie Tupfer eines Pinsels. Ich schaute ihm in die haselnussbraunen Augen und lächelte. Ein kleines bisschen Wehmut erfasste mich, doch ich genoss den Augenblick. Ich, angeschmiegt an seiner Brust. Seine Hände an meiner Haut.

Meine Augen fielen zu und kurze Zeit später öffnete ich sie wieder. Die Geräusche von dem betriebsamen Gasthaus hinter mir drangen in mein Bewusstsein. Ebenso die schrille Stimme meiner Tante zweiten Grades, die nach mir rief. “Abigail... Abigail. Du hast deine Tabletten noch nicht genommen. Komm sofort her!” Ich konnte förmlich ihre runde schwerfällige Gestalt sehen, die mit der hässlich blauen Schürze vor ihrer üppigen Brust herum watschelte und wusste um die Zornesfalten, die ihr ohnehin schon zerfurchtes Gesicht nahezu in eine Kratalandschaft verwandelten. Wahrscheinlich würde sie mich mit ihren dicken Fingern am Arm packen und wutschnaubend ins Haus zerren. Seufzend sah ich weiter nach vorne. In die Ferne. Meine Hand hing immer noch aufrecht auf der Höhe einer Schulter. Jedoch berührte sie nichts. Nur die dämmrige Luft umspielte meine Finger. Ich lächelte, drehte mich um und ging den steinigen Weg zurück zu dem Haus und meinem alltäglichen Leben. Allein.

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