Kapitel 1

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Es regnete in Strömen. Der Himmel war von dunklen, undurchsichtigen Wolken bedeckt. In meinem Kopf sowie ausserhalb. Mühsam quälte ich mich aus dem Bett und schaute aus dem Fenster. Nach einigen Minuten, in denen ich mich in den Regentropfen, die die Fensterscheibe runterlaufen, verlo­ren habe, drehte ich mich um und zog mich an. Ich trank wie jeden Tag einen doppelten, extrastarken Kaffee, um wenigstens ein bisschen wach zu werden, dann schulterte ich meinen Schulrucksack und schwang mich auf mein Fahrrad. Der Weg zur Schule war nicht weit, aber der Regen durchnässte meine Kleider in weniger als einer Minute. Das Warten am Kreisel auf meine Freundinnen machte das nicht besser, und natürlich kamen sie gerade heute zu spät. Als die zwei endlich ankamen, war Pia gerade dabei, Elena von ihrem Wochenende zu erzählen, und anscheinend waren die beiden so vertieft in ihr Gespräch, dass sie mich nicht einmal grüssen konnten. Elena blickte mich nicht einmal an. Elena war seit dem Kindergarten Pias beste Freundin. Früher waren wir zu viert eine Gruppe von besten Freunden. Elena, Pia, meine beste Freundin und ich. Dann kam die Pubertät und plötzlich hat meine beste Freundin bemerkt, dass sie lieber was mit anderen Leuten macht und seitdem waren wir nur noch zu dritt. Aber manchmal fühlte ich mich wie das dritte Rad am Zweirad. Überflüssig. Nicht nur überflüssig, sondern ganz unerwünscht. Und ich vermutete, dass sie sich einfach nicht trauen, mir zu sagen, dass sie lieber alleine wären. Und so kam es, dass ich schweigend neben den beiden zur Schule fuhr, schweigend mein Fahrrad abschloss, schweigend das Klassenzimmer betrat und mich schweigend auf meinen Platz setzte. Ich sah nun seit zehn Minuten bekannte Gesichter und hatte heute noch kein einziges Wort gesagt.

Der Schultag zog sich endlos und anstrengend in die Länge. Von dem Unterricht bekam ich nicht wirklich viel mit. Englisch, Französisch, Kunst und Chemie zogen verschwommen an mir vorbei. In der Mittagspause sprach ich vereinzelt mit ein paar Leuten über unwichtige Sachen wie Hausaufgaben, irgendwelche Sachen auf dem Smartphone und das neue Pärchen der Schule und wie unglaublich süss die zwei denn wären. Ich versuchte innig mitzureden, aber ich war von all den Dingen nicht so ergriffen und konnte mich nicht so begeistern wie die anderen. Vor allem war ich eins: Still. Das war ich in letzter Zeit öfters, aber es schien niemanden wirklich zu stören oder wenigstens aufzufallen.

Die Doppelstunde Mathe zog nicht so einfach so an mir vorbei wie die anderen Lektionen am Morgen. Ich war am Verzweifeln. Ich hasste Mathe mehr als alles andere. Ich hasste alles an Mathe. Zahlen, Prozente, Polynomdivisionen, Algebra, einfach alles. Ich wollte einfach nur noch raus. Raus aus diesem stickigen, dreckigen, lieblos eingerichteten Klassenzimmer, voller Leute die ich nicht mag. Raus aus dieser Schule voller falscher Schlangen, raus aus dieser Stadt, gefüllt mit Dreck und Rauch, die einst die Träume der Menschen, die hier lebten, waren, aber dann wie ein Vampir in der Sonne zu Staub zerfallen waren. Und heute war nicht das erste Mal, dass ich dieses Verlangen hatte. Die Lust, einfach zu verschwinden wuchs von Tag zu Tag. Was natürlich nicht so einfach ging. Also hatte ich mir vor einiger Zeit einen Trick beigebracht, doch zu entkommen.

Ich sass immer noch in der Mathestunde. Auf meinem Stuhl, in der zweitletzten Reihe am Fenster. Meine Augen stierten immer noch auf die Wandtafel, die zu überlaufen schien, vollgeschrieben mit Gleichungen, Buchstaben und Zahlen, die sich zu einem wirren Knäul formten. In Gedanken stellte ich mir vor, wie ich meinen Körper verliess. Von aussen betrachtete ich mich. Sah, wie ich auf die Wandtafel starrte, die Stirn gerunzelt, die Augen trüb, als hätte ich die Hoffnung, irgendetwas zu verstehen schon längst aufgegeben. Ohne Körper lief ich nun zur roten Tür, die von all den Schülern vor mir schon bekritzelt wurde, öffnete sie, ohne dass jemand es bemerkte, und drehte mich noch einmal um. Ich sah, wie Herr Hoffmann vorne Stand, die weisse Kreide in der Hand, wild spekulierend. Eine Leidenschaft für Mathe, die schon fast bewundernswürdig war. Ich beobachtete die Schüler, die Mathegenies in der ersten Reihe, die eifrig mitschrieben und sich pro fünf Minuten öfter meldeten, als ich mich in einem ganzen Jahr gemeldet hatte. Mein Blick schweifte über Elena, die in der zweiten Reihe neben Holly sass, wie sie von weitem aussah, als würde sie ebenfalls mitschreiben, aber ich wusste genau, dass sie in ihrem Heft kleine Figürchen zeichnete. Momentan kritzelte sie gerade die Comic-Version von Nico in ihr Heft, das erkannte ich daran, weil ich sah, wie sie immer wieder zu ihm hinüberblickte und ihn genau studierte. Dann kritzelte sie wieder etwas auf das Papier, nur um sich dann als nächstes seine Augenbrauen ganz genau anzuschauen, damit sie diese auch perfekt treffen würde. Elias, der hinter ihr sass, spielte an seinem Handy herum und gähnte gelegentlich. Ich zuckte mit den Schultern, drehte mich um und schloss die Tür hinter mir. Sachte lief ich die leblosen, grauen Gänge entlang, erreichte das Treppenhaus und begann zu rennen. Ich stürmte durch die grosse Eingangshalle, stemmte mich gegen die schwere Holztür und stand auf dem Schulhof. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Maisonne konnte nicht gegen die tiefen, grauen Wolken ankämpfen. Der Boden war noch nass und übersät von Pfützen. Eine Weile stand ich einfach da, mitten vor dem alten Schulhaus, den Blick auf das Ende der Strasse gerichtet. Ich betrachtete die Häuser, die Seitengassen, jede einzige Blume, an der nun Wasser zu Boden tropfte. Und ich empfand Groll gegenüber dieser Blume. Weil sie trotz dem miesen Wetter und dem schweren Regen einfach dastand und blühte. Es war eine junge Margerite, der es egal war, was gerade mit ihrer Umwelt geschah. Sie stand einfach da und blühte. Und ich empfand Groll gegenüber den Strassen, deren Asphalt durch den Regen etwas dunkler geworden ist und an deren Seiten sich Pfützen gebildet haben. Diese Strassen, die mich Tag für Tag wieder an die selben Orte brachten, aber niemals dahin, wo ich eigentlich hinwollte. Die Strassen, auf denen ich schon als kleines Kind gespielt hatte und auf denen ich gelernt habe, dass ich zuerst Rechts und Links überprüfen musste, ob auch ja kein Auto kommt, und dann erst durfte ich die Strasse überqueren. Aber auch gegen die Häuser empfand ich Groll. Diese viereckigen Betonblöcke, in denen die Menschen wohnten, vor denen ich so gerne weglaufen würde und die Vorgärten, die eingerichtet waren, als würde dort eine glückliche Familie wohnen, mit Kinderspielzeug, welches geordnet und aufgeräumt am Zaun steht, reizten mich. Ich lief zu der alten Eiche, die in der Mitte des Schulhofs stand, wollte mich an ihrer ergrauten Rinde anlehnen, aber... ...stattdessen fiel ich krachend mit dem Stuhl nach hinten um. Leon, der neben mir sass, erschrak sich fürchterlich und die gesamte Klasse wendete sich lachend zu mir nach hinten. Elena schüttelt schmunzelnd den Kopf. Sie war es gewohnt, dass ich ab und zu in meinem Kopf verschwand. Herr Hoffman an der Tafel verdrehte die Augen und klatschte in die Hände, während er um Ruhe bat, damit er den Unterricht fortsetzen konnte.

God Save Our Young BloodWhere stories live. Discover now