Kapitel 1

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Eigentlich fuhr ich meistens mit demFahrrad zur Schule, doch an diesem Mittwoch war das Wetter einfach zuschlecht. Es war kalt, der erste Einbruch des Winters schien bevor zustehen und es goss in Strömen. Der Himmel wirkte fast schwarz unddie Wolken hingen tief, als ich mich mit Anna und Steffi unter dasDach der Haltestelle zwängte. Es war nur eine kleine Haltestelle,alt und stickig, aber immer noch besser als in den Massen von Wasserzu stehen die vom Himmel auf uns hinunter trommelte. Der kurze Wegvon der Haustür bis zur Haltestelle hatte schon gerecht um meineRegenjacke aufs Äußerste in Anspruch zu nehmen. Mein Haaransatz warnass und ich musste mir die Tropfen immer wieder aus dem Gesichtwischen, bis ich endlich ins trockene der Haltestelle kam. Anna undSteffi sahen nicht besser aus, besonders Anna, die den ganzenKullberg hinunter laufen musste wurde gut getränkt. Trotzdem war siegut gelaunt, denn Anna war immer gut gelaunt. Ich kannte die beidenMädchen schon lange. Anna seit der Grundschule und Steffi sogar nochlänger. Wir wohnten nur wenige Häuser voneinander entfernt und ihreEltern führten ein Schuhgeschäft in dem alle Mitglieder meinerFamilie Stammgäste waren. Außerdem waren unsere Eltern gutbefreundet. Diese Freundschaft übertrug sich auf uns und Anna kamdazu als ihre Eltern das große Anwesen auf dem Kullberg kauften. Siewaren offensichtlich reicht, denn das alte Herrenhaus war so großwie ein kleines Schloss und trotzdem ließen ihre Eltern es sichnicht nehmen es von unten bis oben zu sanieren. Kein Wunder, dennAnna's Vater war der Inhaber einer großen Transportfirma. Er warfast immer unterwegs, aber wozu gab es schließlich Skype.

Erst hatte ich sie nicht gemocht, dennich dachte durch das Geld wäre sie hochnäsig und vielleicht war ichauch etwas neidisch. Aber viele gemeinsame Interessen schweißten unsschließlich zusammen. Besonders weil Anna viel Zeit im Laden meinerEltern verbrachte. Wir führten den einzigen Buchladen in der Stadtund auch wenn man dachte das niemand mehr Bücher kaufen, sondern nurOnline bestellen würde, ging es unserem Geschäft erstaunlich gut.Aber das hatte auch seinen Preis. Zum Beispiel den, das ich nach derSchule dort arbeitete. Aber es war gut das wir in Hainburg undUmgebung keine Konkurrenz hatten. Reich wurden wir zwar durch denLaden nicht, aber meine Eltern und ich hingen einfach sehr daran undsolange es zum Leben reichte waren wir zufrieden. Anna steigerteunseren Umsatz beträchtlich, denn sie war eine noch größereLeseratte als ich und hatte anscheinend unbegrenztes Taschengeld. Ja,vielleicht war ich immer noch etwas neidisch auf sie, aber das wardoch normal oder?

Wir drei trafen uns eigentlich seltenschon vor der Schule, denn Anna wurde normalerweise gefahren, Steffiwar die einzige die regelmäßig mit dem Bus fuhr und ich nahmeigentlich immer das Rad. So war es immer etwas besonders zusammenmit dem Bus zu fahren und noch ein bisschen zu quatschen, bevor wirdie Schule erreichten.

„Morgen!" rief ich den beidenentgegen, denn sie waren früher da als ich. Wir umarmten uns kurzund Anna beendete ihren Satz, denn sie vor meiner Begrüßungbegonnen hatte. „Jedenfalls ist er ein totales Arschloch! Hey,Ame!" Ame war die Kurzform für Amelie, die meisten nannten michAme

Ich sah Steffi nicken und es war nichtschwer zu erraten worum es ging. Um die aus der Neustadt.

In dem Stadtteil Neustadt hatte derBürgermeister vor dreißig Jahren billige Hochhäuser hochgezogen ummehr Wohnraum für die Stadt zu schaffen. Aber aus dem neuen undgünstigen Wohnparadies wurde ein richtiges Getto. Kein Wunder dasdie Neustadt ein eigenes Polizeirevier bekommen musste und wenn esÄrger gab, wusste man eigentlich immer wo man suchen musste.

Selbst in der Schule merkte man das. Eswar mittlerweile zu einer Tradition gekommen das die Schüler aus derAltstadt und dem Kullbergviertel irgendwie im Krieg lagen mit denSchülern aus der Neustadt. Unsere Stadt hatte eine Gesamtschule undein Gymnasium, aber die beiden Schulen lagen direkt nebeneinander undmussten sich einen Sportplatz, einen Schulhof und eine Cafeteriateilen. Die meisten aus der Neustadt besuchten die Gesamtschule, diemeisten aus der Altstadt und den Kullbergviertel das Gymnasium. Aberder Schulhof, die Cafeteria und der Sportplatz waren stets einKriegsgebiet. Ich hatte eigentlich versucht ohne Vorurteile zu denaus der Neustadt zu stehen, aber nach dem auch ich schon oft genugZiel ihrer Attacken geworden war, konnte ich sie auch nicht mehrleisten. Die meisten der Mädchen dort waren fiese Schlampen und dieJungs Aggressive und Gewalttätige Arschlöcher. Im Augenblickrichtete sich ihr Spott konzentriert gegen Anna, weil sie ihre alteBrille verloren hatte und ein ziemlich klobiges schwarzes Ding alsErsatz tragen musste, bis ihre Neue Brille fertig war. Sie hatteschon immer Probleme mit den Augen gehabt und so war die Herstellungihrer Brillengläser etwas aufwändiger. Eine Woche wartete sie jetztschon und musste sich den Spott der Neustadtärsche gefallen lassen.Sie tat zwar so, als würde es sie nicht treffen, aber ich wusste wieempfindlich sie war und wie sehr es sie eigentlich verletzte. Einerder Typen aus der Neustadt hatte wohl mal einen Porno gesehen, in derdie Hauptdarstellerin als Sekretärin verkleidet war und genau soeine Brille getragen hatte. Seit dem war Anna vor keinem Spruch mehrsicher.

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⏰ Last updated: Aug 29, 2018 ⏰

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The Lost BoyWhere stories live. Discover now